»Alles«, sagte Nora Hill. Sie hob ihre Zigarettenspitze, sog den Rauch ein und blies ihn durch die Nase wieder aus. »Nach reiflicher Überlegung schien es mir der beste Weg. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Hier. In diesem Raum. Vor diesem Kamin.«
»Sie haben Valerie Steinfeld verraten?«
»Das sage ich doch. Valerie Steinfeld und Martin Landau, den ganzen Plan des Prozesses … alles.«
»Und Flemming? Wie reagierte er? Was geschah danach?«
Es klopfte.
»Ja!« Nora Hill sah zur Tür.
Georg, seit langer Zeit Noras Geliebter, Vertrauter und Vertreter, trat ein. Sein Smoking war tadellos gebügelt wie immer und seine plissierte Hemdbrust makellos rein.
»Ich bitte um Verzeihung, Madame, aber es ist schon fünfzehn Minuten vor zwölf. Der Herr wartet seit einer halben Stunde. Er läßt sagen, daß er Madame dringend bittet, zu kommen.«
»Was, schon dreiviertel?« Nora machte ein erschrockenes Gesicht. »Wie die Zeit vergeht, wenn man erzählt! Man vergißt ganz die Gegenwart, nicht wahr, Herr Aranda?« Nora Hill hatte die Gegenwart, während sie erzählte, keinen Augenblick vergessen. Unterhalb des breiten Randes aus Lapislazuli-Steinchen, der den Kamin umgab, befand sich neben Noras Sessel ein Klingelknopf. Durch Druck auf ihn konnte sie jederzeit Georg herbeirufen. Er hatte auf den Ruf gewartet an diesem Abend. Und Nora hatte den Knopf gedrückt, als sie Manuel gerade berichtete, wie Carl Flemming an jenem Abend vor sechsundzwanzig Jahren in denselben Raum getreten war, in dem sie sich nun befanden.
»Sagen Sie dem Herrn, ich bitte um Verzeihung und komme sofort, Georg.«
»Gewiß, Madame.«
»Und bringen Sie Herrn Aranda zu seinem Wagen.«
»Ja, Madame.«
»Aber hören Sie … Sie können doch nicht gerade jetzt …« Manuel war aufgesprungen.
Nora griff nach den Krücken und erhob sich.
»Es tut mir leid, mein Freund.«
»Bitte, erzählen Sie mir wenigstens, was geschehen ist, nachdem Sie Flemming alles gebeichtet hatten!«
»Ich muß diese Unterhaltung jetzt wirklich abbrechen. Ich sagte Ihnen doch, ich erwarte heute noch wichtigen Besuch – erinnern Sie sich nicht?«
»Bitte! Bitte, noch fünf Minuten!«
»Ausgeschlossen. Wissen Sie, wer der Mann ist? Ich sage es Ihnen, weil ich sicher bin, daß Sie mich nicht verraten werden. Ein Steuerfahnder …«
»Steuerfahnder?«
»Ich habe eine Betriebsprüfung.«
»Hier?«
»In einem anderen Teil meiner Betriebe – in den Bars. Hier könnte ich keine bekommen.«
Diener Georg beeilte sich, zu erklären: »Prostitution ist nämlich in Österreich steuerfrei. Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs!«
»Ja«, sagte Nora, »tatsächlich. Nach dem Gerichtsentscheid bringt Prostitution eine ›Abnützung und Wertminderung des eigenen Körpers‹ mit sich. Abgaben an das Finanzamt kämen also einer Doppelbesteuerung gleich. Und die wäre natürlich unstatthaft. So weit, so schön. Aber in den Bars stimmt einiges nicht, wie Sie sich denken können. Zum Glück ist der Prüfer ein verständnisvoller Mann, nicht wahr, Georg?«
»Sehr verständnisvoll, Madame. Deshalb kommt er jetzt auch hierher.«
»Wir müssen eben sehen, wie wir gewisse Dinge zurechtbiegen … Sie verstehen … Georg …«
Der Diener berührte Manuels Arm.
»Lassen Sie mich los!« Manuel schlug nach ihm.
Georg packte den Arm plötzlich hart.
»Nicht, Herr«, sagte er lächelnd. »Tun Sie das nicht. Kommen Sie, ich bringe Sie hinunter.«
»Madame … Madame, etwas Zeit wird das doch noch haben, bitte …«
»Leider nicht, mein Freund. Ich darf den Beamten nicht länger warten lassen. Und es wird stundenlang dauern. Dabei muß dieser Mann morgen früh ganz zeitig im Amt sein. Wir haben Probleme von ziemlichem Ausmaß zu bewältigen. Sie entschuldigen – es geht um sehr viel Geld …«
»Madame …«
»Nein. Machen Sie mich nicht ärgerlich, Herr Aranda! Ich sage doch: Kommen Sie wieder. Ich habe noch viel zu erzählen. Und vergessen Sie Ihren Hofrat nicht. Der wartet ab zwölf auf Sie. Es ist fast Mitternacht. Sie kommen ohnedies zu spät. Sie könnten gar nicht mehr hierbleiben, auch wenn ich Zeit hätte. Schließlich sind die Fotos doch im Moment wichtiger als alles andere – oder?«
Manuel gab auf.
»Sie haben recht.«
»Aber Sie rufen an! Sie kommen wieder!«
»Bestimmt.«
»Gut.« Sie reichte ihm eine kühle, trockene Hand. Er küßte sie.
»Mein Herr«, sagte Georg.
»Machen Sie sich keine Mühe! Ich kenne mich hier schon aus.«
»Nein, nein, ich begleite Sie selbstverständlich. Madame wünscht es so.«
Die beiden Männer sahen einander an. Georg lächelte unerschütterlich. Manuel zuckte die Schultern. An der Seite des Dieners verließ er den Raum, nachdem er sich vor Nora verneigt hatte.
Sie wartete einen Moment, dann schwang sie auf ihren Krücken in den Gang mit den vielen Türen und den neunundvierzig Stellungen des Giulio Romano hinaus. Manuel und Georg verschwanden eben hinter einer Biegung vor der Treppe, die in die Halle hinabführte. Musik, Stimmen und Gelächter drangen zu Nora herauf.
Sie wartete wieder einige Sekunden, dann schwang sie den Gang hinab. Die Lämpchen über manchen Türen brannten, auch die über der des ›Kleinmädchen-Zimmers‹, das Nora betrat, ohne anzuklopfen.
Jean Mercier erhob sich aus dem roten Sesselchen.
Nora warf die Tür hinter sich zu.
»Großartig, Madame, ganz großartig!« rief der Franzose.
»Santarin schon fort?«
»Er ist erst vor einer halben Stunde gegangen. Bis dahin haben wir beide alles gehört, was Sie dem jungen Aranda erzählten. Santarin läßt sich herzlich bedanken. Er ist so zufrieden wie ich. Aber daß Sie Ihre Erzählung gerade an dieser Stelle unterbrochen haben, das war die Spitze! Herrlich! Und ob Aranda nun wiederkommt!«
»Ja, davon bin ich auch überzeugt«, sagte Nora Hill und dachte: Wenn ich bloß nicht so sehr in der Hand dieser gottverfluchten Hunde wäre. Sie fragte lächelnd: »Hat Ihnen der Film mit dem Fliegenden Holländer geholfen?«
»Außerordentlich, Madame. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Hilfe … Und nun verraten Sie mir bitte noch schnell, was für ein Papier das ist, das Aranda bei sich trägt. Alt … Pasteur … Seidenraupenseuche … Santarin bittet Sie, es nun mir zu sagen … Er hat das alles mit Ihnen besprochen, nicht wahr?«
»Ja.« Nora seufzte. »Also passen Sie auf …«
60
Der Hofrat Wolfgang Groll trug seinen alten Morgenmantel und Pantoffeln. Die Krawatte hatte er abgelegt, das Hemd geöffnet. Er stand vor dem summenden Samowar in seiner Bibliothek und füllte zwei Tassen mit Tee. Eine stellte er auf den Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Manuskripte häuften, die andere reichte er Manuel, der in einem tiefen Fauteuil saß.
»Zucker … Zitrone …«
Der beleibte Kriminalist mit dem silbernen Haar, der, wie es schien, keine Ermüdung kannte, eilte hin und her, öffnete den Flügel eines Fensters und kehrte schließlich in seinen geschnitzten hohen Lehnstuhl hinter dem Schreibtisch zurück.
Am Fuß der Bronzelampe lehnte der kleine vergoldete Rahmen, in dem sich, unter Glas, ein goldgelbes Ginkgo-Blatt befand.
Im Lichtkegel lagen das Papier mit der Handschrift von Manuels Vater und davor die sechs Farbfotos, die Manuel von Nora Hill gekauft hatte. Groll nahm die Zigarre aus dem Mund, schlürfte Tee, rauchte wieder und biß sich auf die Lippe.
»Na!« sagte Manuel.
Es schien, als schreckte der Hofrat tief aus Gedanken auf.
»Jetzt haben Sie aber wirklich Zeit genug gehabt«, meinte Manuel.
»Zeit wozu?«
»Nachzudenken, was Sie mir zu all dem zu sagen haben. Oder ist Ihnen das so sehr in die Glieder gefahren?«
»Ja«, sagte Groll, »das ist es. Wie dieser Bogen zu Frau Steinfeld gekommen sein kann, das weiß ich nicht. Dazu kann ich überhaupt nichts sagen. Das ist … unheimlich ist das! Und in Verein mit den Fotos …«