»Ja? Ja?«
»Es gibt Fälle, die man nicht lösen kann. Ich fürchte, das ist so ein Fall.«
»Aber wieso? Ich finde, wir kommen einer Lösung näher und näher!«
Groll seufzte.
»Sie kennen die drei Menschen auf den Fotos! Das haben Sie selber vorhin gesagt – oder nicht?«
Groll seufzte wieder.
»Das habe ich gesagt. Und nach Ihrer Beschreibung ist der Mann, den Sie bei Nora Hill in … in Aktion sahen, auch Vasiliu Penkovic.«
»Und warum hat er die Fotos aufgenommen?«
»Ich habe keine Erklärung dafür … keine stichhaltige.«
»Dann fragen Sie diesen Penkovic doch! Lassen Sie ihn kommen.«
»Das geht leider nicht«, sagte der Hofrat trist.
»Warum nicht?«
»Penkovic hat sich in unserem Land schon einiges geleistet, das dringend aufklärungsbedürftig war – und noch ist. Denn immer, wenn man ihm an den Kragen wollte, bekam das Innenministerium von den Sowjets einen Wink. Höflich, verstehen Sie? Eine Bitte, nur ein kleiner Wunsch. Man möge Herrn Penkovic doch in Ruhe lassen. Wenn man es nicht täte, könnte die Sowjetunion das als einen unfreundlichen Akt ansehen.«
»Und so wird man Herrn Penkovic also immer weiter in Ruhe lassen!«
»Manuel …« Groll strich sich durch das Haar. »Nach allem, was Sie bisher mit unseren Behörden erlebt haben und was ich Ihnen über die Situation Österreichs erzählte – glauben Sie, daß irgend jemand es wagen würde, vorsätzlich die Sowjets zu verärgern? Nein«, sagte Groll, »das ist das Verfluchte an dieser Geschichte! Ich kenne Penkovic gut. Affären um Fotos, die er aufgenommen hat und die dann irgend jemandem zugespielt wurden, gab es schon ein paarmal. Wir haben uns mit Herrn Penkovic unterhalten, ihn höflich gebeten, uns zu helfen.«
»Und?«
»Er mußte immer herzlich um Entschuldigung bitten: Er hatte keine Ahnung, wovon wir redeten. Was wir mit ziemlicher Sicherheit wissen: Penkovic übernimmt – er ist ein glänzender Mann für so etwas – häufig Aufträge von sowjetischer Seite, Leute zu beschatten und zu fotografieren« – Groll wies auf die Bilder – »wie hier. Nur hat er diesmal auch noch ein zweites Geschäft daraus gemacht.«
»Welches Interesse hatten die Sowjets daran, diese drei Menschen zu beschatten?«
»Nun, vielleicht wollten sie herausbekommen, ob die Amerikaner Entwicklungsaufträge für B-und C-Waffen erteilt hatten. Vielleicht waren sie auch schon weiter und verdächtigten Ihren Vater, von sich aus zu experimentieren. Immerhin wußten sie es zuletzt, und Ihr Vater verkaufte seine Erfindung an Sowjets und Amerikaner …«
»Ich verstehe kein Wort«, sagte Manuel.
»Sie werden gleich verstehen. Dieser Gesandtschaftsattaché Ernesto Gomez arbeitete seit langer Zeit mit Thomas Meerswald zusammen, das wissen wir.«
»Was heißt das! Sie arbeiteten zusammen?«
»Meerswald gelang es, Gomez für sich zu gewinnen. Vielleicht gab er ihm Geld. Vielleicht ist Gomez ein Idealist. Auf alle Fälle ist er eine Ausnahme. Denn sonst weiß ich nichts darüber, daß argentinische Vertretungen im Ausland derlei Dinge untersuchen.«
»Was?«
»Sehen Sie: Es gibt eine ganze Menge deutscher Betriebe in Argentinien mit hochqualifizierten Spezialisten! Vielleicht gibt es darunter auch getarnte Rüstungsbetriebe. Ich weiß es nicht. Jedenfalls halten sich, das ist bekannt, in diesen Betrieben zahlreiche Nazi-Kriegsverbrecher verborgen. Gomez hat Meerswald geholfen, solche Nester aufzustöbern.«
»Warum? Was konnte Meerswald tun?«
»Meerswald war ein Fanatiker.« Groll betrachtete den untersetzten Mann mit den Basedow-Augen und der Glatze auf einem der Fotos. »Er hatte eine Fabrik für Insektenbekämpfungsmittel in Wien. Aber die diente ihm nur als Tarnung.«
»Verstehe ich wieder nicht!«
»Meerswald war in Wirklichkeit einer der größten Jäger gesuchter Personen und verborgener Produktionsstätten für Massenvernichtungsmittel in ganz Südamerika. Er hatte ein Dokumentationszentrum in seinem Stadtbüro aufgebaut. Angeblich in Geschäften, in Wahrheit aber immer auf der Jagd, war er dauernd unterwegs in der ganzen Welt. Er hatte viele Mitarbeiter. Aber alle heißen Spuren verfolgte er selber.«
»Warum reden Sie in der Vergangenheitsform von ihm?«
Der Hofrat strich um die Linien des Ginkgo-Blattes.
»Weil er tot ist.«
»Tot?«
»Man fand ihn am Morgen des vierundzwanzigsten November 1966 erschossen im Zimmer seines Hotels in Buenos Aires. Der Täter wurde nie entdeckt. Am gleichen Tag explodierte hier im Dokumentationszentrum eine Brandbombe. Das Büro und alle Unterlagen wurden völlig eingeäschert, ein Panzerschrank glühte durch. Es war das perfekte Verbrechen – in zwei Teilen, auf zwei Kontinenten. Auch hier in Wien haben wir nie eine Spur gefunden«, sagte der Hofrat Groll.
61
Und der Schnee fiel vor dem halb geöffneten Fenster, lautlos, weiter, weiter, ohne Ende.
Groll erhob sich und füllte die Teetassen nach.
»Nun? Werden Sie langsam meiner Meinung, daß dies ein Fall ist, den man nicht lösen kann?«
»Nicht lösen?« Manuels Augen glühten, sein Gesicht war weiß. »Und ob ich ihn lösen werde! Jetzt erst recht! Jetzt bringt mich nichts mehr davon ab!«
»Ja, Jimmy«, sagte Groll leise.
»Was? Ach – lassen Sie das doch!« Manuels Worte überstürzten sich. »Es gibt nur eine Erklärung dafür, daß Valerie auch auf diesen Bildern ist! Sie war eingeweiht! Vielleicht eine Mitarbeiterin Meerswalds! Vielleicht wußte sie sogar, was mein Vater tat – schließlich hat sie ihn zuletzt getötet. Es sieht also ganz so aus!«
»Eine Sache kann so aussehen und doch ganz anders sein«, sagte Groll.
»Valerie Steinfeld – eine Frau! – tötet Ihren Vater, weil der ein Nervengift herstellt? Manuel!«
»Haben Sie eine andere Erklärung?«
»Eben nicht.«
»Also!«
»Wenn Valerie Steinfeld etwas gewußt hätte, dann hätte auch Gomez es gewußt – und Ihr Vater wäre von den Behörden in Argentinien zur Rechenschaft gezogen worden und nicht von einer alten Frau hier in Wien. Das ist doch Irrsinn!«
»Diese Fotos sind kein Irrsinn! Man kann Neutralität auch übertreiben, Herr Hofrat! Wenn Ihnen schon die Aktivitäten von Gomez und Meerswald bekannt waren, warum haben Sie dann Valerie Steinfeld nicht im November 1966, als Meerswald ermordet wurde …« Manuel brach ab.
»Valerie Steinfeld verhört?« fragte Groll. »Sie haben Ihre Frage schon selber beantwortet, nicht wahr? Weil wir damals noch keine Ahnung hatten, daß sie mit beiden Männern in Verbindung stand. Das erfahre ich heute nacht – durch diese Fotos. Und jetzt können wir Valerie Steinfeld nicht mehr fragen.«
»Mein gottverfluchter Vater«, sagte Manuel. Die Tasse, die er in der Hand hielt, klirrte gegen die Untertasse. Er starrte den Kriminalisten an.
»Warum?« fragte er. »Warum, Herr Hofrat? Warum? Warum hat Nora Hill von Meerswald so gesprochen, als ob er noch lebt?«
»Wahrscheinlich mußte sie lügen. Auch sie wird unter Druck stehen, ganz bestimmt, schon lange.«
»Warum …« Manuel sah Groll hilflos an. »Warum die Lügen … der Terror … die Erpressung … das Gift? Warum die Toten? Warum müssen Menschen einander töten? Ermorden und vernichten – seit Jahrtausenden? Immer perfekter, immer skrupelloser? Warum?«
Groll strich über ein loses Deckblatt der Virginier.
»Beim Menschen«, sagte er, »gelten nicht die gleichen Tötungshemmungen wie bei allen Tieren, die in sozialen Verbänden zusammenleben.«
»Aber weshalb nicht?«
»Ich will es Ihnen zu erklären versuchen, Manuel …« Groll hielt den dünnen Rahmen der Glasscheibe, unter der sich das Ginkgo-Blatt befand, als wolle er sich auf etwas stützen. »Bei den Tieren ist es doch so, nicht wahr: Kommt es zum Kampf mit einem Artgenossen – etwa um ein Weibchen oder um den Besitz eines Reviers –, dann ist schließlich einer der Überlegene …«
»Ja. Und er könnte den andern umbringen! Die Waffen dazu – Zähne, Krallen, Gehörn – besitzt er!« Manuel richtete sich auf. »Aber er tut es nicht!«