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Groll nickte.

»Er tut es nicht. Der Unterlegene flieht entweder und wird eine Weile verfolgt – oder er streckt, falls er nicht fliehen kann, die Waffen, mit einer Demuts-, einer Unterwerfungsgeste. Beim Hund kann man das oft genug sehen. Wie unter seinen Vorfahren, den Wölfen, üblich, wirft sich der Besiegte auf den Rücken und bietet dem Sieger die ungeschützte Bauchseite. Mit dem Erfolg, daß beim Sieger automatisch eine instinktive, also eine angeborene Hemmung einklinkt: Er kann einfach nicht zubeißen.« Groll redete eindringlicher. »Natürlich gibt es gelegentlich Unglücksfälle. Ein Hirsch forkelt einen andern zu Tode. Aber das sind Ausnahmen. Auch bei Hundebeißereien gibt es Todesfälle. Das kommt daher, daß solche Hunde, wie es oft bei Haustieren geschieht, diesen oder jenen Instinkt – in unserem Fall den der Tötungshemmung – verloren haben.«

»Und warum ist es beim Menschen anders?« rief Manuel. »Warum hat Valerie Steinfeld meinen Vater umgebracht? Warum ist Meerswald umgebracht worden? Warum hat mein Vater den Tod der ganzen Weltbevölkerung vorbereitet und ermöglicht – ohne Skrupel, ohne Gewissen?«

»Das hat mancherlei Gründe, unter anderem auch schlicht biologische.«

Groll trank wieder. Er trank viel Tee, wenn er nachts schrieb, arbeitete, sprach. »Es fing damit an, daß der Mensch, im Gegensatz zu seinen Affenverwandten, nicht mit den Zähnen kämpft, sondern mit den Händen. Nur Kleinkinder beißen in Angriff und Abwehr. Solange der Mensch noch mit den Händen zupackte oder zuschlug, war kaum mit Todesfällen zu rechnen. Schlimmstenfalls ging es zu wie in einem Krimi, in dem Gangster und Polizisten sich prügeln. Dann aber kamen die Vormenschen auf die Idee, mit Knüppeln und Steinen auf tierische Feinde oder Beute loszugehen – und anschließend aufeinander.« Asche fiel über Grolls Schlafrock, er bemerkte es nicht. »Knüppel und Stein waren der Anfang der Fernwaffen – vom Pfeil und vom Speer über das Gewehr bis zur Fliegerbombe und zur Interkontinentalrakete, zur Bakterienbombe und zum abgesprühten Bazillengift. Die Gegner rückten immer weiter auseinander! Die Beschwichtigungs- oder Unterwerfungsgeste – die geöffnete, unbewaffnet erhobene Hand, die man dem Feind zukehrte – ist längst überhaupt nicht mehr zu sehen!«

»Das genügt mir nicht. Ich …«

»Warten Sie! Die Hauptsache aber ist, daß wir Menschen – wie jene Hunde, die ihre Gegner umbringen – im Lauf unserer Entwicklung eine ganze Reihe von Instinkten verloren haben, weil wir uns sozusagen zu Haustieren unserer selbst machten – und zu dem, was da verschwunden ist, gehört wohl auch die instinktive Tötungshemmung! Indem unser Großhirn die stammesgeschichtlich älteren Hirnteile buchstäblich überwuchert hat, indem es uns die tödlichsten Waffen hat erfinden lassen, sind gleichzeitig jene angeborenen Mechanismen geschrumpft, die ihren Sitz im Zwischenhirn hatten. Und zu ihnen gehörte das alte Gesetz: Du sollst nicht deinesgleichen töten. Kain, lieber Manuel, steckt in jedem von uns. Genügt Ihnen das?«

Manuel nickte.

»Ja, das genügt mir.« Er sprach langsam und sehr deutlich. »Jetzt begreife ich mich selber. Jetzt weiß ich, warum ich nicht aufhören werde, diesen Fall zu verfolgen, auch wenn er unlösbar ist, wie Sie glauben. Nun bin ich der Jäger, der Menschenjäger bin ich nun! Je mehr mich abstößt, was mein Vater getan hat, desto stärker zieht es mich an.«

Das seltsam gespaltene Blatt betrachtend, dachte Groll an zwei Sätze Goethes in dessen ›Campagne in Frankreich‹: ›Ich hatte mir aus Kants Naturwissenschaft nicht entgehen lassen, daß Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zum Wesen der Materie gehören und keine von der anderen im Begriff der Materie getrennt werden könne. Daraus ging mir die Urpolarität aller Wesen hervor, welche die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durchdringt und belebt …‹

62

Eine Stunde zuvor …

»Ein Bogen altes Papier«, sagte Fedor Santarin.

»Schon brüchig und gelb«, sagte Gilbert Grant.

»Mit der Hand beschrieben.«

»Erste Zeile: ›Pasteur 1870, Seidenraupenseuche‹!«

»Zweite Zeile: ›Erreger Mikroben‹.«

»Dann etwas von Insekten.«

»Und von bakteriellen Toxinen und Schädlingsbekämpfung – oder so ähnlich.«

Grant und Santarin beschrieben das Papier in Manuel Arandas Brieftasche so genau, wie Nora Hill es Jean Mercier hatte beschreiben können, wie dieser es der Besatzung eines seiner Streifenwagen beschrieben hatte, wie ein Mann der Besatzung es Gilbert Grant beschrieb – knapp vor Mitternacht.

»Nein«, sagte der Graf Romath. »Ich habe nie von diesem Papier gehört. Aranda hat nicht mit Landau darüber gesprochen.«

»Sie lügen, Sie alter Päderast«, sagte Grant schwerzüngig. Sein Gesicht war sehr rot, rot waren die Äderchen in den Säuferaugen. Er hielt ein Glas mit Bourbon in der Hand.

»Ich sage die Wahrheit.« Romath tastete nach der Perle an seiner Krawatte. Nein, dachte er, nein. Ich habe genug.

»Graf«, sagte Santarin, charmant lächelnd, »warum streiten Sie es ab? Sie haben doch schon am Nachmittag gehört: Es ist noch ein zweiter Mann im Hotel. Und dieser Mann erklärt, daß Aranda und Landau sehr wohl über jenes Papier sprachen. Ausführlich.«

»Wenn er es erklärt, warum fragen Sie dann noch mich?« Ich wußte ja, es ist Bluff, gar nichts wissen die, dachte Romath.

Die drei Männer saßen im Wohnzimmer von Gilbert Grants hypermodern eingerichteter Villenetage in Hietzing. Große Unordnung herrschte. Zeitungen, Magazine und Kleidungsstücke lagen herum. Flaschen, Gläser und ein Eiskübel standen teils auf dem Tisch, teils auf dem Fußboden, Aschenbecher quollen über.

»Weil unser Mann nicht alles gehört hat. Nur einen Bruchteil. Er wurde gestört. Sie haben in Ihrem Büro Ruhe gehabt, alles zu hören, Graf!« Santarin zupfte an dem Seidentüchlein in der Brusttasche seiner Jacke. Die Wahrheit sah so aus: Der Hauselektriker, der die Abhöranlage installiert hatte, ein williger, billiger und geschickter Arbeiter mit einer schlicht kriminellen Veranlagung, der stets unter Geldnöten litt (er spielte Roulett in Baden), hatte sich tatsächlich häufig in die Leitung eingeschaltet, wenn Manuel Besuch empfing. Der Mann durfte es nie lange tun, es wäre aufgefallen. Er reparierte in diesen Tagen eine kompliziert verlegte Lichtleitung im Vorraum der Telefonzentrale. Wenn die Mädchen viel zu tun hatten, konnte er unbemerkt einen Kopfhörer ans Ohr pressen und für kurze Zeit Gespräche in Manuels Appartement belauschen. Er tat das im Auftrag Grants, der den Auftrag wiederum auf Anregung Santarins erteilt hatte. Santarin traute keinem Menschen auf der Welt. Er mißtraute sogar sich selbst.

Der Hauselektriker, Alfons Nemec mit Namen, sollte den Grafen und dessen Berichte an den Funkwagen überwachen. Er hatte etwas von einem alten Papier und einer Seidenraupenseuche aufgeschnappt und auch die erregten Worte Landaus mitbekommen. Nemec war sofort ins Freie geeilt und hatte das Gehörte, auf einen Zettel geschrieben, dem Mann am Steuer des weißen Chevrolets gereicht, der hinter dem Hotel parkte. Damit war Grants Zentrale informiert, so kam es, daß Romath aufgefordert wurde, seinen Chef zu besuchen …

Aber es war immer noch zu wenig, was Grant und Santarin wußten. Sie mußten mehr wissen, alles. Der Russe wurde noch höflicher.

»Sie antworten nicht, Graf. Ich nehme an, Sie überlegen, was wichtiger ist: das Geld, das Aranda Ihnen bezahlt, damit Sie uns nicht richtig informieren – oder die Freiheit. Was für eine Überlegung! Die Freiheit ist natürlich wichtiger, lieber Graf, immer.«

»Ich bekomme kein Geld von Aranda! Ich schweige, weil ich auf Ihre Verdächtigungen nichts mehr erwidern werde.«

»Und ob Sie werden!« Grant goß sein Glas wieder voll. »Bitten, erwidern zu dürfen, werden Sie, Sie Scheißkerl!« Der Amerikaner ließ ein Stückchen Eis auf den Teppich fallen, seine Hände waren unsicher. Er wies zu einem Schrank. »Da drin liegen die Aussagen von zwei Pagen, beide unter sechzehn, mit denen Sie es getrieben haben, Sie Schwein.«