»Nicht zu vergessen die Aussage des dritten Jungen«, sagte Santarin freundlich. »Der Lehrling in der Blumenhandlung des ›Ritz‹.«
»Der süße Blumen-Karli«, sagte Grant. »So hieß er doch bei Ihnen, nicht wahr? Erst vierzehneinhalb, damals, tck, tck, tck.«
»Die drei Knaben arbeiten inzwischen in anderen Hotels«, sagte Santarin, unerschütterlich liebenswürdig. »Aber sie sind noch in Wien. Sie werden von den kleinen Engeln erpreßt, Graf. Sie bezahlen die kleinen Engel.«
»Ja, mit unserm Geld«, sagte Grant, etwas lallend. »Wir geben es Ihnen. Wenn wir es nicht mehr Ihnen geben, sondern den drei Kleinen direkt und noch eine Prämie dazu, dann gehen sie sofort zur Polizei, erstatten Anzeige und beschwören, daß Sie versucht haben, mit Geld ihr Stillschweigen zu erkaufen.«
»Sie stellten aber dem Blumen-Karli immer noch nach«, sagte Santarin, in seiner Konfekttüte fischend, »und das arme Kind ertrug das einfach nicht mehr! Das arme Kind besprach sich mit den anderen armen Kindern, und gemeinsam kamen sie zu der Ansicht, daß man Sie einfach anzeigen muß.«
Romath ballte die Fäuste.
»Es ist zu schlimm«, sagte Santarin, »daß Sie der Polizei bereits seit Jahrzehnten als abwegig bekannt sind.«
»Ein Verfahren«, sagte Grant, »wurde 1963 durch größte Bemühungen Ihrer guten Anwälte niedergeschlagen, weil sie es so drehen konnten, daß es aussah, als würden Sie von ein paar Minderjährigen erpreßt.«
»Jetzt wird es wieder so aussehen«, meinte Santarin milde, »aber man wird es Ihnen nicht mehr glauben.«
»Diesmal wird man Sie verurteilen«, sagte Grant. »Sie kommen als recht alter Herr ins Zuchthaus. Vielleicht beenden Sie Ihren Lebensabend dort. Wird ein feiner Skandal werden. Direktor eines Wiener Luxushotels. Letzter Sproß einer der bekanntesten Familien Österreichs. Uraltes Geschlecht von Hinterladern!« Er schrie Romath an: »Sie tun, was wir Ihnen jetzt sagen, oder Sie gehen hoch, kapiert?«
Romath fuhr zusammen.
»Nicht doch«, sagte Santarin. »Sie dürfen den Grafen nicht so erschrecken, Gilbert. Sehen Sie, ihm ist ganz schlecht. Etwas zu trinken, Graf?«
»Nein … Was … was wollen Sie von mir?«
»Das Papier«, sagte Santarin.
»Wie soll ich das herbeischaffen?«
»Ah, auf einmal wissen Sie von ihm!« rief Grant.
»Weil Sie von ihm sprachen …«
»Wenn Sie frech werden, kriegen Sie ein paar in die Fresse!« Grant hob einen Arm.
»Gilbert!« sagte der Russe streng. Er wandte sich an den Grafen. »Aranda trägt das Papier noch in seiner Brieftasche. Er wird heute spät heimkommen. Sie fahren jetzt gleich ins ›Ritz‹ zurück. Hier. Nehmen Sie das da.«
Der Russe legte ein Glasröhrchen, welches mit winzigen silbernen Kügelchen gefüllt war, auf den Tisch.
»Was ist das?«
»Ein außerordentlich starkes Schlafmittel, das den Vorzug hat, dennoch recht ungefährlich zu sein. Sobald es seine Wirkung getan hat, ist es im Körper nicht mehr nachzuweisen.«
»Aber …«
»Sie haben uns berichtet, daß Aranda vor dem Schlafengehen immer noch einen Whisky aufs Zimmer bestellt – stimmt’s?«
»Das stimmt …«
»Wo bestellt er den Whisky?«
»Beim Etagenkellner.«
»Großartig. Dann werden Sie zunächst warten, bis Aranda im Hotel ist. Anschließend gehen Sie in die Remise des Etagenkellners im vierten Stock – da wohnt Aranda – und veranstalten eine unangesagte Überprüfung. So etwas ist doch üblich, wie?«
»Ja, gewiß …«
»Sie prüfen so lange, bis Aranda seinen Drink verlangt. Wenn der Kellner dann den Whisky eingegossen hat, lenken Sie ihn ab …«
»Wie?«
»Irgendwie, zum Teufel! Sie fragen etwas. Sie beanstanden etwas. Sie lassen etwas fallen. Der Kellner muß das Glas nur einen Moment aus den Augen lassen. In diesem Moment werfen Sie sechs bis acht von diesen Kügelchen in das Whiskyglas. Sie schmelzen sofort. Das ist alles. Eineinhalb oder zwei Stunden später, wenn Sie sicher sein können, daß er tief schläft, gehen Sie in Arandas Appartement …«
»Das kann ich doch nicht! Die Eingangstür wird versperrt sein, der Schlüssel innen stecken!«
»Wir haben Ihnen gesagt, daß Sie das Nebenappartement nicht vermieten dürfen. Es ist doch leer, nicht wahr?«
»Ja.«
»Na also.« Santarin nahm noch ein Stück Konfekt. Der Brillantring an seiner Hand blitzte rot, grün und weiß, als er die Hand bewegte. »Aranda schläft bei offenem Fenster, das wissen wir. Sie kommen von draußen, über die Balkone. Keinerlei Schwierigkeit. Er wird schlafen, als wäre er tot. Sie holen das Papier – Sie wissen ja jetzt, wie es aussieht, was darauf steht. Sie haben Zeit. Auch wenn der Bogen nicht mehr in der Brieftasche ist – dann suchen Sie ihn eben. In aller Ruhe. Es kann überhaupt nichts passieren. Morgen früh bringen Sie das Papier hierher.«
Romath saß reglos.
»Sie wollen nicht?«
»Was bleibt mir übrig? Sie haben mich in der Hand«, sagte der weißhaarige Hoteldirektor und sah den Russen ausdruckslos an.
»Ich wußte ja, Sie nehmen Vernunft an, lieber Graf.«
»Vernunft, ja«, sagte Romath. Er steckte das Glasröhrchen ein. »Nun möchte ich doch etwas trinken!«
Grant lachte dröhnend und machte einen Drink, den er dem Grafen reichte. Der trank gierig.
»Noch einen, bitte«, sagte er.
»Nein, nein, Sie müssen Auto fahren. Die Straßen sind in einem verheerenden Zustand«, sagte Santarin.
»Aber ich brauche noch …«
»Haben Sie nichts im Büro?«
»Nein. Und in die Bar kann ich nicht gehen oder mir etwas bringen lassen. Das würde auffallen. Ich trinke sonst auch nicht.«
»Hier.« Grant überreichte dem Grafen eine volle Flasche, die er aus einer Wandbar nahm. »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.«
»Ich danke Ihnen.«
»Verschwinden Sie, los!« sagte der Amerikaner unvermittelt brutal.
»Keine Zeit zu verlieren. Nun hauen Sie schon ab!«
»Gilbert, bitte!« Santarin verzog schmerzlich das Gesicht. Er entschuldigte sich für den Amerikaner, begleitete den Grafen in den Vorraum, half ihm in den Mantel und wünschte ihm alles Gute. Im Stiegenhaus wartete er, bis Romath die Eingangstür erreicht hatte. Dann drückte er auf den elektrischen Öffner. Die Tür fiel wieder ins Schloß. Bald darauf startete ein Wagen.
Santarin ging in Grants Wohnung zurück. Der massige Amerikaner lag in einem Sessel, die dicken Beine von sich gestreckt, ein Glas in der Hand. Er sagte mühsam: »Jetzt wird es klappen, verflucht noch mal.«
»Hoffentlich.« Santarin sah seinen Kollegen ernst an. »Dieses elende Saufen! Sie gehen noch drauf dabei! Es ist schrecklich für mich, Ihren Verfall miterleben zu müssen.«
»Ich kann es nicht lassen, das wissen Sie doch.«
»Dann müssen Sie eine Kur machen.«
»Ich kann das alles aber nur noch mit Whisky aushalten.«
»Wieso? Was ist denn passiert?«
»Die Menschen«, sagte Grant lallend. »Die Menschen tun mir leid.«
»Das ist doch besoffener Quatsch!«
»Nein, Fedor, nein …« Der Amerikaner hatte Tränen in den Augen.
»Sie und die Menschen leid tun«, sagte Santarin. »Das ist ja ein Witz, Als sie in Chicago bei diesem Syndikat Geldeintreiber waren und Kunden, die nicht zahlen wollten, halbtot schlugen, taten Ihnen da die Menschen leid?«
»Nein, das stimmt … Da war ich aber auch viel jünger …«
»Und später! In Los Angeles! Als Sie bei dieser Bande der große Planer waren! Als Sie bei jenem Bankeinbruch den Nachtwächter erschossen …«
»Es ist ein Unglücksfall gewesen, Fedor. Ich wollte den Mann nicht erschießen. Nur in die Knie treffen, damit er nicht zur Alarmanlage rennen konnte. Ich …«
»Ja, ja, ja, das kenne ich alles auswendig. Er starb aber an dem Magenschuß. Er hatte Frau und Kinder. Und hat er Ihnen leid getan? Einen Dreck hat er Ihnen leid getan! Es sind Ihnen nie die geringsten Schuldgefühle gekommen, ich habe Sie oft genug gefragt! Als die Kerle dann an Sie herantraten und Ihnen den kleinen Vorschlag machten, nahmen Sie da nicht sofort an – mit Freuden, um Ihre Haut zu retten? Antworten Sie!«