Der ›Chopin-Expreß‹ hatte eine voraussichtliche Ankunftszeit um 13 Uhr 45 – also in sechs Stunden.
»Wir können hier nicht so lange warten«, hatte Irene gesagt. »Dienstags besuchten Valerie oder ich immer die Agnes im Altersheim. Wollen wir zu ihr?«
Sie waren hingefahren.
Das Heim lag in einer stillen Seitengasse der Josefstädter Straße. Unterwegs hatte Manuel auf Irenes Bitte noch vor einem Spielwarengeschäft gehalten.
»Agnes liebt Stofftiere. Sie hat schon eine ganze Sammlung. Wir wollen ihr ein neues Tier mitbringen.«
Sie hatten ein kleines Zebra gekauft.
Die Agnes hielt es nun mit beiden Händen fest und sah es entzückt an. Sie hatte schon wieder völlig vergessen, wovon gerade gesprochen worden war.
»Ein Zebra!« Die Agnes hob es hoch, drückte das weiche Fell an die Wange. Sie eilte vom Rand des Bettes zu einer Persilschachtel neben einem Schrank. Sie kauerte sich nieder und begann, ungestüm wie ein Kind, Stofftiere über die Schulter zu werfen – einen Elefanten, ein Krokodil, ein Schaf, Enten, Raben, Affen, Hasen und Giraffen, größere und kleinere Tiere. Der Boden bedeckte sich. Die Agnes jubelte mit hoher, dünner Stimme: »Ist das nicht schön? Gefällt es Ihnen, Herr?«
»Sehr schön«, sagte Manuel. Er sah hilflos von Irene, welche die Schultern zuckte, zu dem kleinen, stämmigen Mann, der neben der Agnes stand. Hochwürden Ignaz Pankrater war sechsundsiebzig Jahre alt, aber er sah nicht älter als sechsundsechzig aus – wie ein zäher Bauer, ein Mann mit grauem Haar, das er kurz geschnitten in einer Igelfrisur trug, blitzenden kleinen Äuglein, dem gleichen breiten Gesicht wie die Agnes, der gleichen breiten Nase, dem großen Mund, den schweren Händen. Man hatte Hochwürden Ignaz Pankrater eine Wohnung im Gemeindehaus neben der schönen Barockkirche Maria Treu in der Piaristengasse zugewiesen, und weil die Piaristengasse ganz nahe bei dem Altersheim lag, besuchte der kleine Pfarrer die Agnes ein paarmal in der Woche – so auch heute. Irene und Manuel hatten ihn in dem mit alten Möbeln vollgeräumten, überheizten Zimmer angetroffen, wo es nach Äpfeln roch. (Sie lagen auf dem Schrank der Agnes.) Irene hatte dem Pfarrer, den sie gut kannte, erklärt, wer Aranda war. Pankrater hatte sein Beileid geäußert – in der rauhen, kehligen Sprechweise seiner Heimat – und dann dem Bericht der Agnes schweigend gelauscht.
»Die gnä’ Frau ist mit dem gnä’ Herrn auf Besuch in Amerika«, erklärte die alte Köchin nun, auf den Knien, die vielen Tiere hin und her schiebend, an Aranda gewandt.
»In Amerika?«
»Ja. In Kanada. Sie machen da Besuche.«
»Woher wissen Sie denn das, Agnes?« fragte Irene.
»Na, das letzte Mal, wie die gnä’ Frau mich besucht hat, da hat sie sich doch verabschiedet und gesagt hat sie, Agnes, jetzt komm ich ein paar Wochen lang nicht, vielleicht auch noch länger, denn ich fahr’ mit meinem Mann nach Australien.«
»Ach so«, sagte Irene. »Ja, natürlich.«
»Deshalb kommen doch jetzt Sie, Fräulein Irene! So lieb ist das, daß ihr euch immer weiter um mich kümmert’s! Ich möcht ja auch gern einmal in die Gentzgasse kommen, aber ich trau mich einfach nicht mehr auf die Gasse. Die Autos und die Straßenbahnen und die vielen Menschen, wissen Sie?« Die Agnes blickte Manuel an, der nickte. »Die Frau Schwester Oberin sagt immer, ich soll auch nicht in die Stadt, wenn ich so eine Heidenangst hab. Hier geht es mir doch gut, das Fräulein Irene ist da, die gnä’ Frau kommt, Hochwürden kommt.« Die Agnes gluckste vor Vergnügen über einen plötzlichen Einfall. »Soll ich, Fräulein Irene? Damit Ihr Herr Bekannter sieht, was für wunderschöne Tiere ich hab?«
»Ja«, sagte Irene, »das ist eine gute Idee. Bauen Sie den Tiergarten auf, Agnes.«
Die Agnes tat verschämt wie ein kleines Kind.
»Da müßt’s ihr aber hinausgehen derweil! Bis ich euch rufe!«
»Dann warten wir also draußen auf dem Gang«, sagte Pankrater. Die drei Besucher verließen das Zimmer.
Der Gang war lang und hatte viele Fenster, einen Steinplattenboden und zahlreiche bunte Tischchen mit bunten Stühlen.
»Setzen wir uns da hin«, sagte Pankrater. Alte Frauen und Männer, teils in Morgenröcken, manche von Schwestern gestützt, schlurften an ihnen vorbei, betrachteten sie neugierig, grüßten.
»Viele kennen mich hier«, sagte Pankrater, gleichfalls grüßend.
Der alte Pfarrer offerierte kleine, billige Zigarren.
»Nein, danke«, sagte Manuel.
»Zigaretten habe ich leider nicht. Ich darf doch, Fräulein Waldegg?«
»Natürlich!«
Ignaz Pankrater setzte einen Stumpen in Brand, der schrecklich roch, nickte mit seinem quadratischen, harten Schädel und sagte: »Sie sind hergekommen, weil Sie gehofft haben, von dem Fräulein Agnes etwas über den Prozeß damals zu erfahren, Herr Aranda.«
»Ja, Herr Pfarrer.«
»Damit ist es leider nichts. Altersschwachsinn in der mildesten und barmherzigsten Form. Sie ist glücklich, sie erkennt auch noch ein paar Menschen, aber sie bringt alles durcheinander und erinnert sich an nichts mehr – Sie haben es ja gehört.« Manuel nickte. »Ihre ganze Freude sind die Tiere. Eine Gnade Gottes, dieses Alles-Vergessen-Können. Ich wünschte oft, mir wäre sie auch widerfahren.« Der alte Pfarrer blies eine stechend riechende Tabakwolke aus. »Aber mein Gedächtnis ist intakt. Ich muß mich erinnern … an alles … an die ganze furchtbare Zeit. Was habe ich für Leid miterlebt damals. Von was für Unglück hörte ich. Und ich kann es nicht vergessen. Nichts davon. Ja, ja, ich weiß, was Sie mich fragen wollen, Herr Aranda. Natürlich erinnere ich mich auch noch an diesen Prozeß und daran, wie das Fräulein Agnes zu mir gekommen ist. Im Beichtstuhl hat sie mir alles berichten wollen – stellen Sie sich das vor! In der leeren Kirche! Wenn das jemand gehört hätte … Ich habe sie gleich unterbrochen und ihr gesagt, das ist nicht der rechte Ort, sie soll am Abend wiederkommen, in meine Sprechstunde. Möglichst spät, damit sie eine von den Letzten ist und ich Zeit für sie habe. Es sind so viel Unglückliche und Verzweifelte zu mir gekommen damals. Alle wollten Rat und Hilfe – von mir, einem kleinen Pfarrer in einer kleinen Kirche in Ottakring. Arme Leute, gute Leute, Frauen vor allem. Nun ja, und dann, spät am Abend, ist sie also in meiner Wohnung erschienen, das Fräulein Agnes. Ich habe sie als Letzte drangenommen und mir alles genau erzählen lassen …«
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Die Agnes redete und redete.
Ignaz Pankrater saß ihr in seinem Arbeitszimmer gegenüber an einem länglichen Tisch. Regen trommelte laut gegen die Scheiben der Fenster. Die Verdunkelungs-Rouleaus waren herabgelassen.
»… in dem Prozeß komm ich natürlich als Zeugin dran. Ich will alles so sagen, wie es die gnä’ Frau mir sagt. Wir müssen doch den Heinzi retten. Aber es ist alles eine Lüge, was die mich werden beschwören lassen, Hochwürden! Und Meineid ist doch eine Todsünde! Was soll ich denn jetzt bloß machen? Helfen Sie mir, ich bitt Sie, sagen Sie mir, ob ich es tun darf! Sie waren immer mein Beichtvater, Hochwürden. Sie kennen mich, seit ich ein junges Mädel war, seit … seit damals … Da haben Sie mir auch so geholfen! Sie wissen, ich tue nichts Schlechtes, aber wenn ich sterb, dann möcht ich auch in den Himmel kommen dafür und nicht in die ewige Verdammnis …« Die Agnes sprach weiter und weiter. »Wenn ich nicht lüg, wenn ich die Wahrheit sag, dann schad ich dem Heinzi! Dann passiert dem noch was! Und das könnt ich mir nie verzeihen, nie …«
Ihre Stimme wurde leiser und leiser für Ignaz Pankrater. Er dachte verbissen: Was wäre das Normale in einem solchen Fall? Ich würde den Weg des ›forum externum‹ gehen. Das heißt: Ich würde die Agnes um zwei Tage Geduld bitten und dem Wiener Generalvikar den Fall vortragen mit dem Ersuchen, mir eine Weisung zu erteilen. Der Generalvikar – ich kenne ihn, ein anständiger Mensch – würde seinerseits den Fall dem Erzbischof von Wien unterbreiten, dem Kardinal Innitzer. Den kenne ich auch. Das war ein begeisterter Nazi.