Ja, ein Nazi war der Innitzer!
Wäre er keiner, er würde dem Generalvikar sagen: Rufen Sie diesen Pfarrer. Erklären Sie ihm, daß ich hier eine Ausnahme machen darf. Wir leben in einem Unrechtsstaat. Da hat ein Meineid nicht die übliche Bedeutung. Er soll der Frau den Rat geben, das Gericht zu belügen und die Lügen zu beschwören und ihr sagen, daß das keine Sünde ist. Ich, der Kirchenfürst von Wien, übernehme die Verantwortung. So würde ein anständiger Erzbischof handeln. Der Innitzer, der hat die Hakenkreuzfahne an den Stephansdom hängen lassen 1938, als die Nazis gekommen sind. Jetzt denkt er vielleicht anders. Aber wer weiß das?
Ich kann also den Weg des ›forum externum‹ nicht gehen, überlegte der kleine Pfarrer aus Leonfelden, den es in die große Stadt Wien verschlagen hatte, ach nein, das muß meine Entscheidung sein, ich muß sie auf mich nehmen und vor Gott verantworten.
Voll Bitterkeit dachte Pankrater: Wie furchtbar sind die wahrhaft Gläubigen. Und wie glücklich muß ich sein, daß es sie gibt, immer noch gibt.
Also eine Entscheidung in ›forum internum‹.
Er sagte: »Was ist ein Eid, Fräulein Agnes?«
Die Agnes schnurrte die Worte nur so herunter: »Ein Eid, das ist die Anrufung Gottes des Allmächtigen zum Zeugen für die Wahrheit einer Aussage, oder die Ehrlichkeit einer Zusage, oder die Anrufung des Allmächtigen zum Rächer eines falschen oder gebrochenen Eides. – Das ist ja gerade das, wovor ich solche Angst habe. Ich …«
»Fräulein Agnes! Was Sie da gesagt haben, ist richtig. In normalen Zeiten, in denen wirklich Gott als der Allmächtige gilt und verehrt wird – und nicht ein Menschenpopanz, eine Partei, eine unmenschliche Weltanschauung, das Böse.«
»Aber man darf doch nie lügen, nie meineidig werden!«
»Gott will nicht, daß das Böse mächtiger wird als das Gute. Darum siegt das Gute ja zuletzt immer – wenn es manchmal auch lange dauert. Und darum müssen wir uns gegen das Böse stellen, Fräulein Agnes. Wir müssen das Gute unterstützen. Jeder von uns, so sehr er kann. Und darum, Fräulein Agnes, ist Gutes tun in Ihrem Fall wichtiger als der Eid, ist die Rettung einer Familie oder eines Menschenlebens wichtiger als ein Meineid.«
»Das heißt …«
»Das heißt, daß Sie lügen dürfen. Ich erteile Ihnen hiermit die Erlaubnis. Ich, Ihr Beichtvater! Ich spreche Sie frei von den Folgen eines Meineids. Es ist kein Meineid – in diesem Fall, Fräulein Agnes. Nicht in dieser Zeit. Nicht vor diesen Leuten. Sie müssen falsch aussagen. Es ist notwendig.«
»Ach, Hochwürden, Hochwürden!« Die Agnes sprang auf, und ehe Pankrater es verhindern konnte, hatte sie seine Hand geküßt. Er zog sie schnell zurück.
»Fräulein Agnes! Das dürfen Sie doch nicht!«
»Aber wenn ich so glücklich bin! Und wie glücklich wird erst die gnä’ Frau sein!«
»Leise«, sagte der kleine Pfarrer. »Leise, Fräulein Agnes. Und vorsichtig.
Es ist gefährlich, was Sie und Frau Steinfeld und Herr Landau da tun, lebensgefährlich ist es – auch für Sie.« »Für mich auch?« Die Agnes erschrak.
Ignaz Pankrater dachte: Wozu bin ich Pfarrer, wenn ich jetzt nicht alles tue, um zu helfen?
Ignaz Pankrater sagte: »Ja, gefährlich, Fräulein Agnes, falls das Gericht – es wird nicht so sein, bestimmt nicht, aber es könnte theoretisch so sein – Sie überführt, einen Meineid geleistet zu haben. Darauf stehen hohe Strafen.«
»Sehr hohe?« fragte die Agnes ängstlich.
»Sehr hohe. Und darum: Wenn dieser Fall eintreten sollte – er wird nicht eintreten (hoffentlich, dachte Pankrater, hoffentlich!) –, dann erklären Sie dem Gericht, daß ich Sie zum Meineid aufgefordert habe.«
»Daß Sie …« Die Agnes plumpste erschrocken auf ihren Stuhl zurück.
»Das würde ich niemals tun!«
»Das müssen Sie dann tun! Einer muß die Verantwortung tragen in dieser Sache. Sie haben sich um Rat an mich gewandt. Ich habe Ihnen geraten. Also trage ich die Verantwortung. Mit mir …« Er stockte ein wenig und dachte: Ein Held bin ich auch nicht. Wenn wir doch alle mutiger wären, Herr im Himmel. Aber wenn wir alle mutiger wären, dann hätte diese Heimsuchung nie über uns kommen können. Er fuhr fort: »Mit mir werden sich diese Herren nicht so leicht anlegen wie mit Ihnen.« Ach, genauso leicht, dachte er, aber das darf mich nicht beeinflussen. »Ich habe Ihnen den Rat und den Auftrag gegeben, das erklären Sie, wenn etwas schiefgeht. Und das schwören Sie mir jetzt, daß Sie das erklären werden, Fräulein Agnes, vor dem Kruzifix und den brennenden Kerzen schwören Sie es mir, eher lasse ich Sie nicht gehen, haben Sie verstanden?«
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»Sie hat sich lange gewehrt, aber dann hat sie es mir geschworen – vor dem Kruzifix und den brennenden Kerzen«, sagte der alte, kleine Pfarrer und drückte den Stummel seiner stinkenden Zigarre in einem Aschenbecher aus.
Über den endlosen Gang des Altersheims schlurften Männer und Frauen, gebückt, krumm, manche auf Schwestern gestützt.
»Sie sind ein großartiger Mann, Herr Pfarrer«, sagte Manuel endlich.
»Unsinn«, sagte Pankrater. »Was hätte ich denn tun sollen? Hätten Sie anders entschieden an meiner Stelle? Na also.«
»Aber ich bin kein Pfarrer …«
»Ein Mensch«, sagte Pankrater. »Sie sind ein Mensch. Und das war auch ich in erster Linie für Fräulein Agnes – ein Leben lang fast. Der Mensch, dem sie am meisten vertraute. Ich konnte sie doch nicht enttäuschen.«
»Herr Pfarrer«, fragte Irene, »wissen Sie, wie der Prozeß ausging? Was aus dem Jungen wurde?«
Der kleine Mann mit den klobigen Landschuhen schüttelte den Kopf.
»Leider nein. Im Herbst 1943 – da war noch nichts entschieden in diesem Prozeß – hätten sie mich um ein Haar verhaftet. Wegen meiner Predigten. Ich habe den Mund sehr voll genommen auf der Kanzel, wissen Sie. Die Gestapo wollte mich abholen. Zum Glück erfuhren wir rechtzeitig davon. Meine Vorgesetzten brachten mich in letzter Minute aus Wien heraus. Ich habe versteckt gelebt im Salzburgischen, bei Hallein. 1945 ist da der Pfarrer gestorben. Ich habe seine Stelle angenommen. Meine Kirche in Ottakring draußen war ausgebombt. Nichts zu tun für mich in Wien. So viele Arbeit gab es in Hallein – allein die Flüchtlinge, Sie machen sich keine Vorstellung! Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich habe das Fräulein Agnes damals vergessen gehabt, völlig vergessen.«
»Aber sie hat Sie doch nicht vergessen!« rief Manuel.
»Sie hat mich gesucht, überall, jahrelang. Aber sie konnte mich nicht finden. Da hat sie resigniert, besonders, als die Kirche in Ottakring wiederaufgebaut worden ist und ein anderer Pfarrer sie übernahm. Da hat das Fräulein Agnes mich auch nicht weiter gesucht. Sie dachte, ich sei tot, hat sie mir erzählt, als wir uns endlich wiedersahen.«
»Wann war das?«
»Erst vor zwei Jahren. Ich arbeitete lange in Hallein. Dann wurde ich pensioniert, habe noch in einer anderen Salzburger Pfarrei ausgeholfen und bin endlich hier, in der Piaristengasse, gelandet. Als ich wieder in Wien war, erinnerte ich mich auch an das Fräulein Agnes. Und ich fand sie. Aber da war sie schon fast in dem Zustand, in dem sie heute ist. Sie konnte mir nichts mehr erzählen. Nur wirres Zeug, wie Ihnen vorhin, Herr Aranda. Ich versuchte, mit Frau Steinfeld in Kontakt zu treten. Doch die bat mich sehr höflich, von einem Besuch abzusehen.« Pankrater hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ein Geheimnis, das alles. Ein schreckliches Geheimnis, das seine Wurzeln hat in der entsetzlichen Zeit, von der Narren meinen, daß sie endgültig hinter uns liegt …«