»Nach links! Ich helfe Ihnen tragen!«
»Nein, es geht sehr gut …«
»Unsinn!« Mit drei großen Schritten war Irene neben Manuel, gerade als er in einen tief verwehten Weg zwischen zwei Gräberreihen nach links einbog.
Ich werde verrückt, dachte Clairon. Nun verdeckt sie ihn wieder! Und wie! Irgend etwas für das Grab muß es sein, was sie da schleppen. Ist das eine beschissene Angelegenheit!
»Bei dem schwarzen Stein halb nach rechts«, sagte Irene. »Da vorne, zwischen den beiden Trauerweiden, da ist es.«
»Noch ein schönes Stück«, sagte er.
»Sie reden ausgezeichnet deutsch. Waren Sie schon einmal in Deutschland oder in Österreich?«
»Noch nie. Aber daheim haben wir auch immer deutsch gesprochen. Ich konnte es bereits als Kleinkind.«
»Stammen Ihre Eltern aus Deutschland?«
»Nein. Meine Mutter ist seit acht Jahren tot. Beide Eltern waren geborene Argentinier. Wie ich. Es ist drüben in vielen Familien üblich, zwei Sprachen zu sprechen. Französisch oder Deutsch meistens – oder Spanisch.« Sie stapften Seite an Seite durch den Schnee.
»Einen Weg hatten sie hier freigelegt, einen schmalen Weg … und jetzt!«
»Wer war beim Begräbnis?« fragte Manuel.
»Meine Eltern … Sie kamen aus Villach. Martin Landau und seine Schwester.« Irene sah Manuel an. »Und eine fremde Frau.«
»Was heißt das – fremde Frau?«
»Keiner von uns kannte sie.«
»Seltsam.«
»Seltsam, ja. Wir sprachen noch darüber.«
»Wie sah sie aus, diese Frau?«
»Das weiß ich nicht. Sie war verschleiert.«
»Verschleiert?«
»Tief. Und sie weinte sehr. Sie kam mit einem Wagen und war schon da, als wir eintrafen. Und sie fuhr als erste wieder fort. Es war … als ob sie nicht erkannt werden wollte …«
»Eine alte Frau? Eine junge?«
»Schwer zu schätzen – mit dem schwarzen Schleier. Anfang vierzig, würde ich meinen.« Irene Waldegg blieb stehen und holte tief Atem.
Auch er hielt an. »Nur einen Moment …«
»Vielleicht sollten wir nicht sprechen.«
»Es sind bloß meine Stiefel. Sie werden so schwer … Ja«, sagte Irene, »und dann war noch ich da, natürlich, und die drei Männer von dem Begräbnisinstitut. Wir fuhren hinter dem Totenauto her, Tilly Landau mit ihrem Bruder, ich mit meinen Eltern. Die Wagen parkten alle drüben auf der Allee …«
»Also eins, zwei … acht Menschen. Und ein Pfarrer«, sagte Manuel.
»Kein Pfarrer«, sagte Irene.
Es ist zum Jungekriegen, dachte Clairon. Da drüben steht er. Und dieses Weib dicht neben ihm. Dicht vor ihm. Verdeckt ihn völlig.
»Wieso kein Pfarrer?« fragte Manuel erstaunt.
»Selbstmord …«
»Aber da findet man immer einen Ausweg … Gemütsverwirrung … Störung der Geistestätigkeit …«
»Ja, so versuchte ich es auch. Nichts zu wollen. Sie hat doch …« Irene schluckte. »Sie hat doch vorher Ihren … vorher einen Mord begangen.«
»Natürlich«, murmelte er beklommen.
»Nur mit Schwierigkeiten erhielt ich die Erlaubnis für ein städtisches Begräbnis auf dem Zentralfriedhof.«
Sie stapften weiter durch den Schnee.
Clairon, hinter dem mächtigen Stein, unter dem großen Engel, trat von einem Fuß auf den andern. Er trug dicke Wollstrümpfe, aber nach all der Zeit begannen seine Zehen zu erstarren. Durch das Fernrohr beobachtete er das Paar, das sich immer weiter von ihm entfernte. Nichts zu machen, dachte Clairon. Die Frau verdeckt Aranda ununterbrochen. Ich muß Geduld haben. Wie oft habe ich schon Geduld haben müssen! Bekomme ich meine Chance vor 15 Uhr 10, riskiere ich es auch in der Stille. Dann heißt es eben schnell weg. Schöner wäre es natürlich, wenn ich es im Lärm der AIR FRANCE erledigen könnte. Um 15 Uhr 20 startet die SABENA. Und um 15 Uhr 30 eine SWISSAIR. Dazwischen, um 15 Uhr 25, soll eine BEA aus London landen. Ich weiß allerdings nicht, durch welchen Korridor sie kommt. Ich habe heute noch keine Maschine einfliegen gehört. Egal! Wenn es gar nicht anders geht, wenn sie schon wieder in den Wagen steigen wollen und ich habe keine Wahl, erschieße ich doch zuerst die Frau. Dann muß ich allerdings verflucht viel Glück haben, um Aranda richtig zu erwischen. Nun, dachte Clairon, wir wollen nicht gleich mit dem Ärgsten rechnen. Bisher hat Gott mir immer noch geholfen. Er wird es auch diesmal tun. Und mir vergeben. Das ist sein Beruf.
Irene Waldegg und Manuel Aranda standen vor Valerie Steinfelds Grab. Eine hohe Schneedecke hatte den Hügel zugedeckt. Sie stiegen beide auf ihn, Manuel bückte sich und zog ein schiefes, dünnes Holzkreuz aus der gefrorenen Erde. Danach steckte er die Spitzen des großen Zirkels in den knirschenden Schnee. Er fühlte, daß unter diesem große gefrorene Erdbrocken lagen, mit denen man das Grab zugeschüttet hatte.
So sieht das also aus, dachte Manuel, plötzlich ernüchtert und leidenschaftslos. Hier liegt die Frau, die meinen Vater ermordet hat. Ich wollte das Grab sehen, als erstes, unbedingt, heute noch. Ich habe mir weiß der Himmel was vorgestellt. Wie mir zumute sein, welche Empfindungen ich haben würde dabei. Ein Berg Erdschollen, vereist, unter Schnee, in einer Schneewüste. Das Grab dieser betagten Mörderin. Ich stehe auf ihm. Und was empfinde ich?
Nichts.
Nichts und nichts.
»Was immer sie getan hat – sie war der wunderbarste Mensch, den ich je gekannt habe …« Irene sprach mit dem Blick auf das Grab, für sich, nicht für ihn. Ihre Stimme war klanglos geworden. Sie redete wie in Trance. »… Valerie war so klug, nie konnte sie böse werden, alles verzieh sie immer sogleich, was man ihr auch antat. Für alles fand sie eine Entschuldigung, ein Motiv, eine Erklärung. ›Du mußt dich auch in die Lage des anderen versetzen‹ – wie oft habe ich das von ihr gehört …«
Aber auf dem Tonband, dachte Manuel, sind andere Worte dieser Frau festgehalten. Ganz andere Worte …
»Niemals hat sie gelogen. Sie war … so ehrlich. So ehrenhaft. Niemals hat sie mich im Stich gelassen. In all den Jahren, die wir zusammenlebten, gab es nie Streit, nie ein böses Wort … Die Reisen, die wir gemacht haben … an die Nordsee … nach Lugano … nach Capri … in die Normandie …«
Was für ein Nekrolog, dachte Manuel. Totenrede auf eine Mörderin.
»… Valerie … Ich … habe sie doch so geliebt …« Die Stimme sank zu einem Flüstern ab. »Mehr als alle anderen Menschen … Ja, sogar mehr als meine Mutter! Ich habe meine Mutter gerne, wirklich … Aber seit ich in Wien lebte, war Valerie meine Mutter … mehr als die wirkliche … und sie wurde es immer stärker, immer stärker …«
15 Uhr 01, dachte Clairon. Noch neun Minuten.
»Jetzt ist sie tot! Und ich bin allein, ganz allein. Was soll ich jetzt tun?« rief Irene mit der Stimme eines unglücklichen Kindes.
Manuel Aranda dachte plötzlich: Und ich? Wie war das mit mir, gestern vormittag?
10
»Ein Hemd.«
Wie habe ich dich geliebt! Deinen Humor, deine Freundlichkeit, deine Weisheit, deine niemals aufdringliche Kameradschaft. Wie haben meine Freunde mich um dich beneidet …
»Ein Unterhemd.«
Alles konnte ich dir anvertrauen, als kleiner Junge, und später als großer. Für alles hattest du Verständnis. Stets hast du mir geholfen, wenn ich in Schwierigkeiten steckte, als kleiner Junge, und dann als großer …