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Etwa 900 Kilometer südwestlich von Buenos Aires liegt, in der Provinz La Pampa und am Nordwestrand einer großen Salzseepfanne, der Ort La Copelina. Knapp 15 000 Menschen wohnen hier. Die nächste Bahnlinie in der wüstenhaft trockenen Gegend läuft 300 Kilometer entfernt. Nur zwei schlechte Straßen führen von La Copelina nach Puelches und La Cautiva, armen, trostlosen Städten am träge dahinfließenden Rio Salado. Der Salzsee hat eine Länge von 80 Kilometern.

1952 wurde es an seinem Südostende lebendig. Innerhalb eines Jahres entstanden Fabrikgebäude, Hallen, große flache Gebäude und eine Betonpiste, auf der auch Transportmaschinen landen konnten. Die Firma QUIMICA ARANDA errichtete hier ein Zweigwerk, nachdem, wie man in La Copelina hörte, Wissenschaftler das Salz des Sees untersucht und herausgefunden hatten, daß sich in seinem südöstlichen Teil riesige Mengen gewisser Substanzen befanden, die zur Herstellung bestimmter Schädlingsbekämpfungsmittel hervorragend geeignet waren. Die Regierung hatte der QUIMICA ARANDA die Erlaubnis zur Ausbeutung der praktisch unerschöpflichen Vorkommen erteilt.

Da die hier hergestellten Chemikalien auch für Menschen giftig waren, wurde das gesamte Betriebsgelände mit hohen Stacheldrahtzäunen umgeben, Wachen und Hundeführer patrouillierten Tag und Nacht, es gab Scheinwerfer auf Türmen, und alle Sicherheitsbestimmungen waren sehr streng. Die Einwohner von La Copelina zeigten sich einerseits erfreut über die neue Industrie, denn sie brachte der Stadt Dauergäste – Angehörige der Chemiker und Ingenieure, die am Südostende des Sees arbeiteten –, Steuern und eine Blüte des Geschäftslebens und des Gaststättengewerbes; auf der anderen Seite waren den primitiven Eingeborenen das seltsame Werk, die brausenden Flugzeuge, der Lärm der Maschinen, der bei ungünstigem Wind bis in den Ort drang, unheimlich. Weitaus stärker jedoch war der Enthusiasmus über den wirtschaftlichen Aufschwung. Die Kinder der Chemiker und Techniker gingen in La Copelina zur Schule, die man eigens für sie errichtet hatte, sie wohnten mit ihren Müttern in neu erbauten Bungalows, und zu den Wochenenden kamen die Männer stets vom südöstlichen Seeufer herauf, wo sie die Woche über in Baracken lebten. Es arbeiteten nur Männer in der Fabrik – insgesamt 253.

Und dann kam das Furchtbare.

Am Dienstag, dem 14. Januar 1969, gegen die Mittagsstunde, bebte unter La Copelina die Erde, und der Lärm gewaltiger Detonationen erfüllte die Luft. Voll Panik stürzten die Bewohner ins Freie. Sie sahen, weit entfernt, am Südostende des Salzsees mächtige schwarze Wolken, dort, wo sich die Fabrikanlagen befanden, und in diesen orangefarbene Feuerbrünste. Die Menschen hatten sich noch nicht von ihrem Entsetzen erholt, da bebte die Erde neuerlich, und weitere dunkle Rauchpilze schossen hoch. Brände wüteten nun schon das ganze Ende des Sees entlang. Es sah aus, als brenne die kahle, harte Erde. Und die schwarzen Wolken stiegen wie riesige Türme zu dem blauen, strahlenden Himmel empor.

Polizei, Feuerwehr, Freiwillige und verzweifelte Angehörige der Männer, die in dem Werk gearbeitet hatten …

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»… machten sich sofort auf zur Unglücksstätte. Sie brauchten für den Weg fast zwei Stunden. Als sie endlich eintrafen, konnten sie an die Anlagen nicht näher als zwei Kilometer heran, denn hier brannte immer noch alles, die Luft war von Qualm und Rauch verpestet, und die Temperaturen, die durch das Großfeuer entstanden waren, hatten enorme Höhen erreicht«, berichtete Juan Cayetano.

Er saß, Manuel gegenüber, an einem Tischchen in der kreisrunden gläsernen Espresso-Bar auf dem Cobenzl. Unter ihnen lief die freigeräumte Höhenstraße, über deren Serpentinen sie den Berg heraufgekommen waren. Von ihrem Platz aus sahen sie ganz Wien, ein Meer von Häusern, Palästen, Kuppeln und Kirchen, die Donau, ihre Brücken, das Land dahinter. Am Morgen hatte der Schneefall aufgehört, zwei Stunden später war die geschlossene Wolkendecke zerrissen. Jetzt, gegen 16 Uhr, ließ eine schon tief im Westen stehende Sonne Millionen Fenster der leuchtenden Stadt glühend aufstrahlen. Bei klarer Sicht war der Anblick von hier oben stets überwältigend. Darum blieb das Espresso auch das ganze Jahr geöffnet, während die angeschlossenen Großbetriebe – Restaurants und Bars, die sich über ein weites Gelände erstreckten – im Winter schlossen.

»Das ist am vierzehnten passiert«, sagte Manuel, der Cayetano mit steigender Erregung gelauscht hatte. »Am dreizehnten bin ich abgeflogen. Heute schreiben wir den einundzwanzigsten. Warum haben Sie mich nicht angerufen und mir das alles längst erzählt? Warum haben Sie nichts gesagt, als Sie von Paris aus mit mir sprachen?«

»Es war mir verboten«, sagte Cayetano, ein großer, schwerer Mann in den Fünfzigern, mit dunklen Tränensäcken. Er fror in dem überheizten Lokal. Cayetano war gegen Mittag gelandet und hatte mit den beiden Anwälten, die ihn begleiteten, im ›Ritz‹ auf Manuel gewartet. Dieser war erst am Nachmittag erschienen. Er hatte noch die Familie Roszek in das Lager der ›Jewish Agency‹ bringen müssen. Irene war mit der Straßenbahn zur Möven-Apotheke gefahren. Manuel hatte die Anwälte um Entschuldigung gebeten und sich mit Cayetano sofort auf den Weg hierherauf gemacht, nachdem er zu seiner Verblüffung dem Hofrat Groll begegnet war …

»Was machen Sie im ›Ritz‹?«

Der rundliche Mann hatte seine Virginier gemustert und den silberhaarigen Kopf gewiegt.

»Graf Romath ist einem Unglück zum Opfer gefallen.«

»Was?«

»Leise.«

»Aber wie …«

Groll berichtete schnell, was Romaths Putzfrau an diesem Morgen entdeckt hatte, als sie zur Arbeit kam.

»Vielleicht war es wirklich ein Unfall?«

»Die Beamten, die den Fall untersuchen, sind davon überzeugt.«

»Sie nicht?«

»Ich nicht. Gar nicht. Deshalb habe ich mich hier ein wenig umgesehen. Der Sender, den der Graf in seinem Büro hatte, ist verschwunden. Der Receptionschef – der Dienstälteste hier – hat provisorisch die Leitung des Hotels übernommen. Alle sind sehr betroffen oder tun so. Und man hat mich händeringend gebeten, kein Aufsehen zu erregen. Sie wollen es unbedingt bei dem Unglücksfall bleiben lassen – verständlich.«

Dieses Gespräch fand in der vorderen Halle statt, gleich nachdem Manuel ins Hotel gekommen war. Sie unterhielten sich flüsternd miteinander.

»Sie glauben an Mord?«

»Nein.«

»Woran dann?«

»Selbstmord«, antwortete Groll. »Ich kannte den Grafen lange. Er war ein … er hatte seine Besonderheiten. Und er war in Ihren Fall verwickelt, das wissen wir. Ich könnte mir gut vorstellen, daß man etwas von ihm verlangt hat, was er nicht zu tun bereit war. Dank seiner Veranlagung konnte man ihn erpressen. Es blieb ihm kein anderer Ausweg. Um das Hotel und seinen Namen zu schützen, inszenierte er einen Selbstmord, der genau wie ein Unfall aussah … so etwa.«

»Mein Gott!«

»Unterhalten Sie sich ab sofort mit niemandem mehr über unseren Fall in Ihrem Appartement oder überhaupt im Hotel«, sagte Groll. »Sie werden mir recht geben, wenn ich meine, daß das nun zu gefährlich ist. Unsere Freunde wissen sicher auch längst Bescheid.«

Das stimmte. Santarin und Grant waren durch den Hauselektriker Nemec informiert worden. Der Russe hatte sich trotz aller Verärgerung beeindruckt von der Tat des Aristokraten gezeigt, Grant nur geflucht. Sie benötigten Ersatz für Romath – und wo war der so schnell zu beschaffen?

»Noch etwas«, sagte Groll. »Tragen Sie die Fotografien dieses Penkovic und den Zettel aus Valerie Steinfelds Fotoschatulle bei sich?«

»Ja.«

»Geben Sie mir alles. Ich stecke es in ein Kuvert und schicke es an Doktor Stein. Er soll es auch in den Tresor legen.«

»Sie meinen, daß man von dem Grafen verlangt hat, diese Sachen zu stehlen?«

»So etwas Ähnliches muß es gewesen sein«, hatte Groll geantwortet und die Fotografien und das vergilbte Papier in Empfang genommen. »Ihre Freunde warten schon auf Sie. Fahren Sie mit dem Vertreter Ihres Vaters weg, wenn Sie jetzt mit ihm sprechen.«