»Wohin?«
»Irgendwohin. Auf den Cobenzl, zum Beispiel. Da gibt es eine sehr hübsche Espresso-Bar. Der Weg ist nicht zu verfehlen.«
»Um neunzehn Uhr habe ich mit meinem Botschafter ein Treffen vereinbart.«
»Zeit genug also …«
So war Manuel mit Cayetano auf dem Cobenzl gelandet und hatte sich angehört, was geschehen war.
»Verboten?« sagte er jetzt zu Cayetano. »Wer hat es Ihnen verboten?«
»Unsere Staatspolizei. Wir haben seit der Katastrophe Beamte in der Zentrale sitzen. Ich bin verhört worden, wir alle wurden verhört. Da ist der Teufel los, kann ich dir sagen, Manuel.«
»Aber wieso?«
»Laß mich weitererzählen. Die Leute aus La Copelina konnten nichts ausrichten. Nicht das Geringste. Vollkommen hilflos standen sie vor dem höllischen Flammenmeer. Wie die Untersuchung später ergab, waren Bomben mit Napalmfüllung und Zeitzünder explodiert – in solcher Anordnung und Reihenfolge, daß nichts, aber auch nichts von dem Werk übrigbleiben konnte.«
»Weiter! Weiter!«
Cayetano sagte: »Von La Copelina aus alarmierten die Leute Buenos Aires. Man rief mich an. Das Innenministerium schaltete sich sofort ein, ebenso das Verteidigungsministerium.«
»Das Verteidigungsministerium? Ich begreife nicht …«
»Ich hatte es alarmiert.«
»Sie? Aber warum?«
»Du kannst dir wirklich nicht denken, warum?«
»Nein!« rief Manuel, sehr verwirrt.
»Hm …« Cayetano starrte auf die Tischplatte. »Nun ja«, sagte er nach einer Pause. »Dann ist also wirklich alles so, wie ich dachte.«
»Was dachten Sie?«
»Der Reihe nach. Ich erzähle es dir gleich. Die Regierung nahm die Sache verflucht ernst.«
»Aber weshalb …«
»Laß mich reden! Drei Transall-Transporter mit ausgesuchten hohen Beamten und Offizieren, Brandspezialisten, Kriminalbeamten und Regierungsvertretern flogen los. Ich mußte mitfliegen. Es war das erste Mal, daß ich nach La Copelina kam.«
Ist das auch wahr? dachte Manuel. Ist das auch wirklich wahr? Du, der Stellvertreter meines Vaters, warst nie in La Copelina? Bei La Copelina lag das Entwicklungszentrum für AP Sieben, davon bin ich überzeugt. Völlig überzeugt. Zerstört wurde es gewiß in trautem Übereinkommen von Amerikanern und Sowjets. Die hatten, was sie wollten. Mein Vater war tot. Nun mußten alle Zeugen und Mitarbeiter, alle Mitwisser verschwinden. Das ganze Werk mußte verschwinden! Keine Hinweise, kein Verrat mehr. Man soll nicht sagen, daß die Herrschaften zimperlich sind …
Unterdessen hatte Cayetano weitergesprochen: »Wir kamen gegen siebzehn Uhr an. Das Gelände brannte immer noch. Du kannst dir nicht vorstellen, bis zu welchem Grad es verwüstet war. Nur die Landepiste hatte nichts abbekommen. Sie liegt zu weit entfernt. Spezialisten löschten die Flammen. Eine Untersuchung war erst am nächsten Morgen möglich. Die Leute in dem zerstörten Werk waren alle tot. Ohne Ausnahme. Verbrannt und verkohlt bis zur Unkenntlichkeit. Man brauchte Tage, um sie zu identifizieren. Napalm! Wir mußten mit Gasmasken arbeiten, dieser Gestank – unerträglich. Und dann noch die Tierkadaver …«
Na also, dachte Manuel mit trauriger Genugtuung.
»Versuchstiere?«
Cayetano verzog das Gesicht.
»Versuchstiere, ja. Pferde, Kühe, Ochsen, Affen, Schweine … verreckt in ihren Ställen und Käfigen. Das ganze Werk ein einziger zusammengeschmolzener Trümmerhaufen …« Ja, dachte Manuel. Napalm. Hitze genug, um auch die letzte Mikrobe, das letzte Gift zu vernichten. Napalm – eine gute Idee. Saubere Arbeit.
»Hör mal«, sagte der schwere Mann. »Ich sehe, du willst mir kein Vertrauen schenken.«
»Wirklich, Cayetano, ich …«
»Sei ruhig. Ich weiß nicht, was du inzwischen in Wien herausgefunden hast. Du sagst es mir nicht. Gut, dann will ich es dir sagen!«
»Sie?«
»Ja.« Cayetano legte eine Faust auf den Tisch. »Ich. Du hast herausgefunden, daß dein Vater mit B-Waffen experimentiert hat. Daß er eine Erfindung mit nach Wien brachte und sie hier den Vertretern anderer Mächte zum Kauf anbot …«
»Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich von den verfluchten Kerlen aus dem Verteidigungsministerium, die mir in den letzten Tagen nicht von der Seite gewichen sind! Und die wieder wissen es aus Wien! Die Botschaft hält sie auf dem laufenden über das, was du hier treibst! Ich kann dich verstehen, Manuel. Es ist schlimm für dich, dir sagen zu müssen, daß dein Vater ein Verbrecher war, ein Schuft, ein Schwein … Das ist auch für mich schlimm. Aber es ist die Wahrheit!«
»Und woher will denn unser Verteidigungsministerium wissen, was mein Vater gemacht hat?« fragte Manuel schnell. Cayetano war jetzt sehr aufgeregt. Vielleicht verriet er etwas.
»Woher?« Der schwere Mann klopfte mit der Faust auf die Tischplatte.
»Dein Vater, die QUIMICA ARANDA, bekam seinerzeit von unserem Verteidigungsministerium den Geheimauftrag, einen möglichst wirkungsvollen B-Kampfstoff zu entwickeln!«
Manuel starrte Cayetano an. Er schluckte schwer und würgte ein paar Worte hervor: »Das … Verteidigungsministerium hat ihm … den Auftrag … gegeben?«
»Ja! Nur er und ich und die Chemiker und Techniker in La Copelina waren informiert. Und alle waren wir auf absolutes Stillschweigen vereidigt worden. Argentinien hat keine Atomwaffen …«
»Cayetano, ich schwöre Ihnen, ich habe bis zu dieser Minute nichts von dem Auftrag geahnt!«
»Das glaube ich! Aber daß dein Vater hier, in Wien, sein eigenes Geschäft mit dem Auftrag machen wollte, das hast du herausbekommen – lüg mich nicht an!«
»Ich lüge Sie nicht an, Cayetano«, sagte Manuel. »Ja, das habe ich herausbekommen …«
70
»… die frühen Fotografen haben ihn gelehrt – und er wiederum hat die Fotografen gelehrt –, welche überraschenden Wirkungen man durch die Wahl eines engen Bildausschnitts, den Blickwinkel steil von oben herab, wie hier bei dieser Tänzerin, oder auch von unten herauf, gewinnen kann. Sehen Sie sich die unübertrefflich kultivierte Komposition an …!« Der schlanke, große Mann mit dem mächtigen Kopf und den scharfen Augen des Chirurgen verharrte reglos vor einem Bild, das auf einem Dreifuß stand. Auch seine schönen, kraftvollen Hände erinnerten an die eines Operateurs. Hätte dieser Mann nicht einen überkorrekten dunklen Anzug getragen, sondern einen am Hals hochgeschlossenen weißen Kittel, Gummihandschuhe und eine weiße Kappe auf dem grauen Haar – er wäre gewiß einem Sauerbruch oder einem Billroth ähnlich gewesen. Schon in den Zuchthäusern, woselbst dieser Mann elf Jahre seines Lebens verbracht hatte, war er von seinen Mitgefangenen immer ›der Professor‹ genannt worden. Tatsächlich hatte sein schwerer Beruf das Einfühlungsvermögen, die Behutsamkeit, die Konzentriertheit, die Ruhe und die absolute Meisterschaft des genialen Chirurgen von Anton Sirus verlangt.
Aus dem Rheinland stammend, lebte er seit 1965 in Bremen, einundsechzigjährig nun, ein schwerreicher Mann, ja, das konnte man sagen, ein Mann, der sein Geld für sich arbeiten ließ oder es in den Werken von Malern der berühmten ›Französischen Schule‹ anlegte. Anton Sirus war ein Verehrer der schönen Künste, und seine größte Liebe galt den Impressionisten.
Er hatte eine imposante Villa an der Findorff-Allee erworben, die den alten, exklusiven Bürgerpark entlanglief. Aus den Fenstern des ersten Stocks konnte man den Emma-See mit seinen vielfach geschlungenen Armen erblicken, das Wildgehege und die Tiere dann, den Eichenhain, die Meierei und, weit entfernt, die Rückfront des Parkhotels.
Seine Nachbarn wußten nichts von Anton Sirus. Sie hielten ihn für einen höchst erfolgreichen, properen Handelsmann, der sich zur Ruhe gesetzt hatte und sein Leben genoß – in Reichtum und Luxus, mit ausgesuchtem Personal und großem Bentley, mit Golfspiel, Reisen und mit seiner wundervollen Gemäldesammlung.
Die Bilder hingen an den Wänden eines gewaltigen Raumes im ersten Stock. Sirus hatte aus drei Zimmern eines machen lassen, das durch komplizierteste Alarmanlagen gesichert war. Hier gab es Werke von Cézanne, Picasso (aus dessen ›Blauer Periode‹), Degas, Modigliani, Gauguin, Renoir und Toulouse-Lautrec. Einige bequeme Lehnstühle standen auf dem riesigen Teppich. Die Fenster waren groß und ließen viel Licht in den Raum. Jedes Gemälde konnte zudem in raffinierter Weise einzeln elektrisch angestrahlt werden. Mehrere Stunden des Tages verbrachte der Ex-Zuchthäusler, steinreiche Mann und immer noch begnadetste Schränker Europas hier, versunken in der Betrachtung seiner Schätze, die er ständig vermehrte.