Am Vormittag des 21. Januar 1969 war er aus London zurückgekehrt. Auf einer Auktion des berühmten Kunsthauses Christie’s hatte er die Tänzerin von Degas, die nun auf dem Dreifuß stand, am 16. Januar zu einem unerhörten Preis ersteigert. Der Transport des Bildes nach Deutschland, welchen er persönlich überwachte, hatte ihn Zeit und viel Geduld gekostet.
Anton Sirus bestand sozusagen aus Geduld – im Gegensatz zu dem rosigen, blonden und dicken Willem De Brakeleer, der in einem der Lehnstühle saß und seine Nervosität kaum mehr zügeln konnte. Der ›Professor‹ verbreitete sich seit mehr als einer Stunde über Degas. Er war noch in London gewesen, als De Brakeleer in Bremen eintraf. Der Holländer hatte warten müssen. Dann war Sirus heimgekehrt. In Erinnerung an ihre bewegte Vergangenheit hatte er den Holländer zum Tee geladen, bei welcher Gelegenheit De Brakeleer seine Mission erledigen und Merciers Angebot unterbreiten konnte. Ernst, mit undurchdringlicher Miene, hatte der ›Professor‹ seinen Tee getrunken und zugehört. Doch anstatt auf die Anfrage einzugehen, war der Meisterschränker und Kunstenthusiast aufgestanden und mit De Brakeleer in sein ›Museum‹ gegangen, wo er den neuen Degas präsentierte. Der Holländer hatte nicht gewagt, Sirus’ Reden zu unterbrechen. Nun, endlich, faßte er sich ein Herz.
»Professor …« Auch die niederländische Polizei, auch Interpol, auch De Brakeleer hatten Anton Sirus jahrzehntelang mit diesem Spitznamen geehrt.
»Ja, was ist, Baas?« Sirus sah den Holländer verträumt an, langsam kehrte er aus seiner wunderbaren Welt der Kunst in die Wirklichkeit zurück. In alter, liebevoller Gewohnheit sprach er De Brakeleer immer noch so an, wie dieser von Kollegen und Kriminellen stets respektvoll tituliert worden war, mit dem holländischen Wort für ›Meister‹.
»Ich teile Ihre Begeisterung, Professor. Wirklich unvergleichlich, dieses Gemälde. Aber können wir … ich meine … wollen Sie sich nicht endlich zu meinem Vorschlag äußern?«
»Nein«, sagte Sirus.
»Was, nein?«
»Ihr Vorschlag interessiert mich nicht, Baas.«
De Brakeleer wurde es richtig übel. O Gott, dachte er. Wenn ich ihn nicht herumkriege … Der verfluchte Film … Mercier schickt ihn der Flugzeugfirma … Ich bin meinen Job los …
Der rosige Holländer zwang sich zu einem Lächeln. »Sagen Sie nicht gleich Nein! Wie ich schon bemerkte, spielt Geld bei dieser Sache keine Rolle. Sie können verlangen, was Sie wollen …«
»Ich habe genug Geld. Ich brauche nichts.«
»Unsinn. Jeder Mensch braucht Geld!« De Brakeleer war den Tränen nahe.
»Ich nicht. Wirklich nicht. Ich habe in meinem Leben lange und schwer gearbeitet. Und ich bin nicht mehr im Gewerbe, das wissen Sie doch, mein lieber Baas.«
»Herr Sirus … Professor … Ich bitte Sie! Sie sind der einzige Mann, der für eine solche Sache in Frage kommt! Sie erhalten jede Unterstützung! Sie müssen nur sagen, was Sie brauchen – es wird beschafft. Sie haben jeden Schutz. Tun Sie es, ich flehe Sie an. Mir zuliebe! Erinnern Sie sich an 1947? Die Volksbank in Den Haag? Ich wußte, daß Sie es waren, ich wußte es!«
»Gar nichts wußten Sie, Baas.«
»Aber ja doch!«
»Und warum haben Sie mich dann nicht verhaften lassen?«
»Weil … Ich … Sehen Sie, Professor, ich empfand damals solche Bewunderung für Sie … für Ihr Genie … und ich …«
»Ach, hören Sie auf! Das ist doch Gefasel. Einen Dreck wußten Sie.« Sirus setzte sich gleichfalls. Er legte die Spitzen der schönen Finger aneinander und stützte das Kinn darauf. »Sie werden erpreßt, Baas, wie?«
De Brakeleer nickte nur.
»Schlimm?«
»Sehr schlimm.«
»Hm. Und Ihre Freunde brauchen das, was in dem Tresor liegt, sehr dringend?«
»Außerordentlich dringend, Professor!« De Brakeleer fühlte neue Hoffnung. »Die gehen auf jede Bedingung ein! Auf jede.«
»Sind Sie da ganz sicher?«
»Absolut sicher!«
»Nun gut«, sagte Sirus. »Wir werden sehen, ob Sie recht haben.«
»Wie? Wie?« De Brakeleer zitterte vor Erregung.
»Was mich an Monet so fasziniert«, sagte Sirus, »das ist seine einzigartige Begabung, Atmosphäre durch das Licht, durch die Spiele des Nebels, der Sonne und des Wassers zu schaffen … Da gibt es ein Bild von ihm – ›Die Mohnblumen‹. 1873 entstanden. Nach diesen ›Mohnblumen‹ bin ich verrückt. Ich träume von ihnen! Ich muß sie haben! Ich muß sie haben, Baas, verstehen Sie mich?«
»Aber ja doch, natürlich!« De Brakeleers Worte überstürzten sich. »Sie wünschen das Bild – wunderbar! Sie werden es bekommen!«
»Langsam«, sagte Sirus. »Es muß doch einen Grund haben, daß ich das Bild noch nicht besitze, wenn ich es so sehr liebe, wie?«
»Ja …« De Brakeleers Hochgefühl sank wieder.
»Ich kann es nicht bekommen. Um keinen Preis. Ich habe schon alles versucht. Nichts zu machen. Das Bild hängt in Paris, im Musée de l’Impressionisme. Unverkäuflich.« Sirus’ Stimme hob sich etwas. »Aber ich verliere noch den Verstand, wenn ich die ›Mohnblumen‹ nicht habe. Und das ist Ihre Chance!« Er sprach wieder mit seiner normalen, leisen und kultivierten Stimme. »Die Franzosen schicken Sie, nicht wahr?«
»Das sagte ich doch. Die Franzosen wollen unbedingt …«
»Sie wollen unbedingt, ja, ja. Wenn die Franzosen mich wirklich unbedingt wollen, Herr De Brakeleer, dann sollen sie dafür sorgen, daß mir das Musée de l’Impressionisme die ›Mohnblumen‹ verkauft! Ich zahle. Ich zahle, was man verlangt. Aber man muß mich kaufen lassen, verstehen Sie? Man muß das Bild freigeben!«
»Und wenn man es freigibt … dann wären Sie bereit …«
Mit verhaltener Bewegtheit sprach Anton Sirus: »Dann würde ich noch einmal an die Arbeit gehen, ja. Das wäre es mir wert …«
71
»Wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen, Herr Cayetano – es blieb den Herren keine andere Wahl.«
»Entschuldigen? Ich verstehe nicht …«
»Die Untersuchungsbeamten in Buenos Aires haben Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Auch die Vertreter der Ministerien nicht. Sie wurden absichtlich belogen und falsch informiert – im Interesse der Ermittlungen«, sagte der argentinische Botschafter. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht, eckige Kinnbacken, stahlgraue Augen, und er gehörte zu einer der ältesten und vornehmsten Familien seines Landes. Obwohl er sich hervorragend beherrschte, zeigte er doch Zeichen von Spannung und Nervosität – wie alle Anwesenden in dem großen Salon des Wiener Botschaftsgebäudes. Die Ausnahme war Manuel Aranda. Den hatte plötzlich eine eisige Ruhe ergriffen.
Rund um einen niedrigen Rauchtisch saßen links von Manuel der massige Cayetano, rechts der kleine Botschaftsattaché Ernesto Gomez mit dem schwarzen Kraushaar und der olivenfarbenen Haut. Manuel gegenüber saß der Botschafter, flankiert von den beiden Anwälten, die mit Cayetano eingetroffen waren – dem persönlichen Rechtsvertreter Raphaelo Arandas und dem Syndikus der QUIMICA ARANDA.
Die Besprechung, die nach wenigen allgemeinen Worten und mechanischen Kondolationen begonnen hatte, war durch die Erklärung des Botschafters schnell zum Thema gekommen …
»Sie werden sofort verstehen, Herr Cayetano. Doktor Aranda sagte Ihnen, er habe einen Geheimauftrag über die Herstellung von B-Waffen von unserem Verteidigungsministerium erhalten.«
»Richtig.«
»Sie und alle seine wissenschaftlichen Mitarbeiter an dem Projekt wurden zu absolutem Stillschweigen darüber vereidigt.«