Выбрать главу

»… bis morgen abend alles vorbereitet haben, Herr Aranda«, klang endlich, nun wieder deutlich, die Stimme des Syndikus an sein Ohr.

Ich traue Cayetano, ja, ich traue ihm, dachte Manuel.

»Gut«, sagte er. »Dann will ich die Papiere morgen abend durchlesen und gleich, oder übermorgen, unterschreiben …«

Bald danach brach die Gesellschaft auf. Die Verabschiedung war höflich-frostig.

In das ›Ritz‹ zurückgekehrt, zog Manuel Juan Cayetano zur Seite.

»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?«

»Gerne, natürlich. Was gibt es?«

»Sagen Sie es auch den Anwälten, zur Sicherheit. Wenn morgen jemand nach mir fragt, bin ich in der Botschaft. Das hinterlasse ich im Hotel. Wenn Sie angesprochen werden sollten, es ist unwahrscheinlich, aber es könnte sein …«

»Sie denken an diese junge Dame, Irene Waldegg?«

»Ja.« Manuel nickte. »Besonders an sie. Ihr müssen Sie auch sagen, ich sei in der Botschaft. Es wird bis spät abends dauern.«

»Was?«

»Meine Reise. Ich muß morgen verreisen, nach Villach, und Irene Wäldegg darf das nicht wissen.«

72

»Du bist sicher?«

»Ganz sicher. Mir ist andauernd schlecht. Zum drittenmal ist meine Periode ausgeblieben. Meine Brüste werden größer und härter. Und Schwindelanfälle habe ich auch schon. Ein zweites Kind, Martha! Ich habe eine Todesangst vor diesem zweiten Kind! Ich darf es nicht haben!«

»Aber es gibt bestimmt keinen Arzt, der dir helfen würde. Die müssen sich jetzt doch an ganz strenge Vorschriften halten!«

»Das weiß ich.«

»Hast du jemand davon erzählt – der Agnes meine ich, oder diesem Martin Landau?«

»Kein Wort. Ich bin auch heute zu dir gefahren, am Sonntag, damit Martin nicht mißtrauisch wird. Agnes und Heinz habe ich gesagt, du hättest etwas mit mir zu besprechen …«

Dieser Dialog zwischen Valerie Steinfeld und ihrer Schwester Martha Waldegg fand am Nachmittag des 17. Juni 1938 im Wohnzimmer der kleinen, kaisergelb gestrichenen Villa an der Fliederstraße in Villach statt. Hinter dem Haus lag ein großer, verwilderter Garten mit Obstbäumen und vielen Blumen, die bunt leuchtend blühten. Sommer, tiefer Sommer ruhte über dem Land, die Sonne brannte, an den Horizonten flimmerte die Luft über den dunklen Bergwäldern, von denen die Stadt umgeben war. Das Haus, um die Jahrhundertwende gebaut, hatte Marthas Mann, der Berufsoffizier Hans Waldegg, von seinen Eltern geerbt. Der Major Waldegg war bald nach dem ›Anschluß‹ Österreichs als Kommandeur einer Einheit in eine Garnison bei Berlin versetzt worden, seine Frau seit zwei Monaten allein.

Die Villa befand sich im Westen der Stadt, nahe den berühmten Heilquellen von Warmbad Villach. Schon den Römern war die gesundmachende Kraft der heißen Sprudel, die hier aus der Erde schossen, bekannt gewesen.

Das Waldeggsche Haus lag sehr abgeschieden, die Fliederstraße war still, kaum jemals fuhr dort ein Auto, die nächsten Villen standen entfernt. Eine Frau kam in der Woche während des Tages, um Martha zu helfen. Heute, am Sonntag, hatte sie frei. Martha und Valerie waren allein. Die Schwestern, beide zierlich gewachsen, sahen sich außerordentlich ähnlich. Beide hatten leuchtend blondes Haar, blaue Augen und eine helle, schöne Haut. Martha war zwei Jahre jünger als Valerie.

Die Fenster des Wohnzimmers standen offen. Bienen summten draußen im Gras. Eine Lokomotive pfiff, lange und klagend. Nördlich verlief eine Eisenbahnlinie.

»Lieber Gott im Himmel«, sagte Martha leise. Sie starrte die Schwester unentwegt an.

»Es geht nicht«, sagte Valerie. »Es geht nicht, Martha! Vor zwei Wochen habe ich Heinz die Dokumente für den Ariernachweis geben müssen – sein Klassenlehrer hat gedrängt und gedrängt. Ich mußte dem Buben sagen, daß Paul Jude ist – und er also ein Mischling. Du weißt, was ich daraufhin mitgemacht habe …«

»Du hast es mir geschrieben.«

»Aufgeführt wie ein Wahnsinniger hat sich der Bub! Schrecklich! Ganz furchtbar war das! Geheult und geschrien hat er! Angespuckt hat er mich! Denn ich, ich bin doch an allem schuld in seinen Augen, nicht wahr? Und vor zwei Tagen haben sie ihn aus der HJ geworfen …«

»Das auch noch!«

»Natürlich. War doch zu erwarten. Alles ging wieder los, viel schlimmer als das erste Mal! Er hat mich verflucht und Paul verflucht und getobt und sich nicht beruhigen lassen. Er spricht kein Wort mit mir seither.« Valerie ergriff einen Arm der Schwester. »Nachts liegt er in seinem Bett und weint, stundenlang … die Agnes und ich haben es gehört! Und von Paul weiß ich nicht einmal, ob er durchgekommen ist, ob er noch lebt!«

»Arme Valerie …«

»Zwei Kinder … in dieser Zeit! Jeden Tag können die Nazis etwas unternehmen gegen Mischlinge … sie behandeln wie Juden, wer weiß? Und ich bin allein! Ich muß sehen, daß ich Heinz durchbringe! Aber wenn ich jetzt noch ein Kind bekomme … das ist unmöglich, Martha! Das ist unmöglich!« Valerie holte keuchend Atem. »Es muß passiert sein, bevor Paul geflohen ist … an diesem Nachmittag, ehe ich ihn zum Westbahnhof brachte … Ich hatte noch so ein Gefühl …« Valeries Nägel gruben sich in den Arm der Schwester. »Hilf mir jetzt! Bitte, bitte, hilf mir!«

»Wie?«

Valerie sprach beschwörend und gleichzeitig gehetzt: »Elf Jahre bist du verheiratet. Ihr habt keine Kinder, obwohl ihr sie euch so wünscht. Dein Mann ist sehr traurig darüber. Das hat er mir gesagt! Das hast du mir gesagt! Dein Mann ist nicht da. Er wird auch nicht so bald aus Berlin zurückkommen. Keinesfalls vor Ende des Jahres. Und das würde genügen, Martha, das würde genügen.«

»Du meinst … du würdest …«, stammelte die Schwester.

»Ich muß! Ich muß doch! Bitte, Martha, hilf mir! Du … du hilfst doch auch dir! Denk nur, wie glücklich Hans wäre, wenn du ein Kind bekommst, endlich ein Kind – nach all der Zeit …«

»Natürlich«, sagte Martha, »würde er glücklich sein. Ich würde auch glücklich sein mit einem Kind. Aber du … Valerie … du … es wäre doch deines! Glaubst du, daß du das aushalten könntest?«

Valerie nickte stumm.

Martha Waldegg stand abrupt auf. Sie trat an das Fenster. Ein goldgelber reifer Apfel fiel eben von einem Baum und rollte ein Stück die Wiese hinab. Die Bienen summten, die Blumen dufteten, in der Ferne stießen die Puffer der rangierenden Waggons gegeneinander.

»Wahnsinn«, sagte Martha mit erstickter Stimme. »Wahnsinn. Aber dann wieder … wenn ich denke …«

»Ja?« fragte Valerie. »Ja?«

»… wie Hans sich freuen würde … und ich … ein Kind … Unsere Ehe wäre wieder so wie früher, wie ganz am Anfang …«

»Nun, also!«

»Aber – ich denke jetzt einmal gar nicht an dich, Valerie –, aber da gibt es so viele Schwierigkeiten … Wir brauchen einen Arzt …«

»Du hast doch einen! Den alten Doktor Orlam! Zu dem gehst du, seit du verheiratet bist! Der weiß alles über deine Ehe! Und ein Nazi ist er auch nicht, hast du mir gesagt …«

»Nein, ein Nazi ist er nicht. Im Gegenteil. Aber trotzdem … trotzdem! Valerie, denk, was er riskiert!«

»Er hat Schweigepflicht. Wir reden mit ihm. Nein sagen kann er noch immer! Los, ruf ihn an!«

»Jetzt, am Sonntag?«

»Ich muß doch nach Wien zurück. Sag ihm, es ist dringend. Bitte, Martha …«

Ein langes Schweigen folgte.

»Nein«, sagte Martha zuletzt, den Blick auf den blühenden Garten gerichtet. »Nein, es geht nicht. Das kann man nicht tun. So sehr ich und Hans uns ein Kind wünschen. So schön es wäre. Es geht nicht, Valerie. So etwas ist unmöglich.«

73

»Es besteht kein Zweifel«, sagte der Dr. Josef Orlam zwei Stunden später in dem stillen Ordinationszimmer seiner Praxis. Er war ein älterer Mann mit gütigen Augen, einer Nickelbrille, die ihm ständig auf die Nasenspitze rutschte, und schmalen Händen, die schon viele Hunderte von Kindern zur Welt gebracht hatten. »Nicht der geringste Zweifel. Sie sind schwanger, Frau Steinfeld. Im dritten Monat.«