Er hatte Valerie untersucht. Nun saß sie, wieder angezogen, neben Martha vor Orlams Schreibtisch. Die Schwestern hatten sich dem erfahrenen Arzt vollkommen anvertraut, gleich nachdem sie eingetroffen waren. Orlam hatte vorgeneigt, ohne ein Zeichen von Erschrecken oder Abwehr, gelauscht. Er wohnte im Stadtzentrum, am Nikolaiplatz, gegenüber der Kirche. Wenn man aus dem Fenster des Ordinationszimmers blickte, sah man das träge Wasser der Drau und, zum Eingang des Platzes führend, die Brücke über den Fluß. Platz und Brücke waren sonntäglich leer. Der Arzt lebte allein. Heute, am Feiertag, hatte er auch keine Sprechstundenhilfe, und seine Haushälterin war zu Bekannten gefahren.
Valerie fragte mit geradezu unnatürlicher Ruhe: »Wären Sie bereit, uns bei meinem Plan zu helfen, Herr Doktor?«
»Frau Steinfeld«, sagte Orlam, »ich habe Angst, daß Sie sich das alles zu einfach vorstellen.«
»Zu einfach für Sie?«
»Nein, für Sie«, sagte Orlam. »Wenn Sie Ihr Vorhaben durchführen, dann wird Ihr Kind nach dem Gesetz und der Taufe, aber vor allem nach einer ganz strengen persönlichen Verpflichtung, der Sie sich unterwerfen müssen, das Kind Ihrer Schwester sein!«
»Das ist mir klar.«
»Ich fürchte, das ist Ihnen noch nicht klar.« Der Arzt knöpfte verstört seinen weißen Kittel auf und zu. »Jetzt wollen Sie es so. Aber warten Sie noch eine Weile, eine kleine Weile – bis die Muttergefühle in Ihnen richtig erwachen – wie bei jeder Frau, die ein Kind erwartet. Was wird dann sein? Und erst, wenn das Kind geboren ist! Wissen Sie, wie stark Ihre Liebe, Ihre Sehnsucht und Ihr Verlangen nach dem eigenen Kind dann sein werden? Was Sie dann werden tun wollen und nicht werden tun dürfen, ohne daß es eine Katastrophe gibt? Wissen Sie …«
»Herr Doktor«, unterbrach ihn Valerie, und ihre Stimme hob sich mehr und mehr, während sie weitersprach, »Sie haben recht, ich weiß es nicht. Ich kann es mir vielleicht nicht einmal vorstellen. Aber ich weiß, was es heißt, in Angst zu leben tagein und tagaus, ohne Hoffnung auf ein Ende! Zur Gestapo gerufen und bedroht und geängstigt und angebrüllt zu werden, jede Woche, jede Woche, immer weiter! Einen Mann verloren zu haben, der vielleicht tot ist, den ich vielleicht nie wiedersehe!« Jetzt schrie sie. »Und schon ein Kind zu haben, das der Willkür dieser Leute ausgeliefert ist, und um dieses Kind zittern zu müssen, jede Stunde, Tag und Nacht! Das weiß ich! Und alles, was mich erwartet, wenn ich meinen Plan ausführe, kann nicht so schlimm sein, kann mich nicht so quälen wie das, was ich schon jetzt aushalten muß! Dieses ungeborene Wesen soll nicht auch noch leiden müssen! Es soll in Frieden aufwachsen dürfen!«
»Sie sind ein gejagter Mensch, ein Mensch in Panik, ohne Schutz …«
»Können Sie das vielleicht ändern, Herr Doktor?« Valerie schüttelte den Kopf. »Nein, das können Sie nicht. Niemand kann das. Deshalb sitze ich hier vor Ihnen und frage Sie: Wollen Sie uns helfen?«
Sie bemerkte, daß ihre Schwester die Hände gefaltet hatte.
»Ich will Ihnen helfen«, sagte der alte Arzt nach einer Pause. Er sah Valerie in die Augen. Sie erwiderte den Blick ruhig. »Aber ich kann Ihnen nur eine bestimmte Strecke Ihres Weges weit helfen. Die kürzeste, Frau Steinfeld.«
»Die wichtigste«, sagte Valerie. »Nur … Villach ist eine kleine Stadt. Erschwert das nicht Ihre Hilfe?«
Orlam schob seine Nickelbrille empor. Sie glitt sogleich wieder herab.
»Ja und nein«, sagte er. »Natürlich werden wir vorsichtig sein müssen. Andererseits wissen die Leute hier, wo fast jeder jeden kennt, daß Frau Waldegg seit vielen Jahren zu mir kommt und alles versucht, um ein Kind zu empfangen. Und daß ich alles versucht habe, um ihr dabei zu helfen. Das käme uns nun zugute. Ich habe eben Erfolg gehabt mit meiner Behandlung, nicht wahr? Frau Waldegg wäre eben endlich schwanger, ich würde das konstatieren, sie würde es herumerzählen, regelmäßig weiter zu mir kommen … Sie wohnt ziemlich einsam, das ist auch gut … Ich würde ihr sagen, wie sich eine Schwangere benimmt …«
Plötzlich schien Martha vergessen zu haben, was hier vorbereitet wurde. »Wenn Sie uns wirklich helfen wollen, Herr Doktor, dann schreibe ich morgen meinem Mann, daß ich ein Kind erwarte – nein, nein, keine Sorge, die lassen ihn nicht weg von seiner Einheit. Da geht es zu wie verrückt. Er ist für viele Monate unabkömmlich, hat er mir geschrieben. Höchstens nach der Geburt des Kindes werden sie ihm ein paar Tage Urlaub geben, stelle ich mir vor …«
»Ich würde etwa im Oktober nach Villach kommen und bei meiner Schwester wohnen, um ihr beistehen zu können in der Zeit vor der Geburt«, sagte Valerie. »In Wien ist das alles zu regeln. Das haben wir schon besprochen, Martha und ich. Sie könnten mich draußen in der Fliederstraße untersuchen, Herr Doktor – offiziell natürlich meine Schwester. Der Weg in die Stadt wäre ihr dann eben schon zu beschwerlich. Sie haben einen Wagen. Und eine Entbindung zu Hause – das ließe sich doch auch machen, nicht wahr?«
»Wenn mir jemand assistiert …«
»Ich bin sehr kräftig«, sagte Valerie schnell. »Man sieht es mir nicht an. Mein erstes Kind habe ich ganz leicht und ohne Komplikationen zur Welt gebracht. Nach vier Tagen lief ich schon wieder herum. Zur Not wird es auch schon nach drei oder zwei Tagen gehen. Martha kann Ihnen assistieren. Niemand wird etwas merken … Was ist? Wollen Sie doch nicht, Herr Doktor?« Er antwortete nicht. »Herr Doktor, bitte! Sie haben doch schon zugesagt!«
Der Dr. Josef Orlam antwortete langsam: »Ich halte mein Wort auch. Ich sympathisiere mit allen Schwachen und Hilflosen. Wahrscheinlich, weil ich selber hilflos und schwach bin. Ich kann nicht viel für Sie tun.«
»Sie können unendlich viel tun!« rief Valerie.
Orlam zuckte die Schultern.
»Nach Ihnen sehen, das Kind entbinden – was ist das für jemanden, der es sein Leben lang getan hat? Und dann kann ich noch den Geburtsschein ausstellen und durch meine Unterschrift bestätigen, daß Ihre Schwester ein Kind bekommen hat. Damit aber ist meine Macht zu Ende. Schon zu den Behörden gehen müssen Sie, Frau Waldegg. Und lügen vor Ihrem Mann müssen Sie. Jetzt schon! Und mit der Lüge leben müssen Sie beide, meine Damen – immer weiter! Es gibt dann kein Zurück mehr.«
74
Der Major Hans Waldegg war selig vor Freude, als er den Brief seiner Frau erhielt, in dem diese ihm mitteilte, daß sie schwanger sei. Er versuchte, Urlaub zu bekommen, jedoch wurde sein Ansuchen abgelehnt. Daraufhin begann der Major Waldegg, ein rechtschaffener, etwas einfältiger Mensch aus gutbürgerlicher Familie, der sich niemals um Politik kümmerte, sondern nur um seinen Beruf, den auch schon Vater und Großvater ausgeübt hatten, seiner geliebten Frau jeden zweiten Tag zu schreiben, und sehr viele Briefe erreichten auch ihn.
Alles gehe seinen guten Gang, schrieb Martha Waldegg. Dr. Orlam sei außerordentlich zufrieden. Sie befolge alle seine Anordnungen auf das gewissenhafteste. Mit der Geburt des Kindes rechne sie für Dezember. Ihre Schwester Valerie habe jetzt bereits versprochen, Anfang Oktober nach Villach zu kommen und bei ihr zu bleiben bis zur Niederkunft.
Das rührte den Major Waldegg, denn er wußte um Valeries Schicksal, und sie tat ihm leid. Waldegg schrieb auch Valerie Briefe, in denen er immer wieder seine Dankbarkeit aussprach.
Diese Briefe ließ Valerie daheim herumliegen, so daß die Agnes und ihr Sohn sie lesen konnten, und sie zeigte sie Martin und Ottilie Landau. Natürlich verstanden die beiden, daß sie der Schwester beistehen wollte und mußte, und so übersiedelte Valerie Anfang Oktober. Sie war da bereits im sechsten Monat, aber man sah ihrem schlanken Körper die Schwangerschaft nicht an. Genauso war es bei Heinz gewesen – erst in den letzten beiden Monaten vor der Geburt hatte Valeries Leibesumfang zugenommen.