Sie verließ Wien und die Buchhandlung Landau, Heinz blieb in der Obhut der Agnes zurück. Es war ein trauriger Abschied, denn Heinz, mittlerweile ein wenig ruhiger geworden, zeigte sich der Mutter gegenüber immer noch feindselig und verschlossen. Mit schwerem Herzen fuhr Valerie nach Villach …
Regelmäßig erschien Dr. Orlam in der einsamen Fliederstraße und untersuchte scheinbar Martha Waldegg (die nun schon ein Kissen – Polster sagt man in Österreich dazu – unter dem Rock trug), tatsächlich jedoch Valerie, deren Bauch sich langsam rundete, was sie mit Hilfe einer veränderten Garderobe und dadurch verbarg, daß sie kaum noch das Grundstück verließ und in Begleitung ihrer Schwester täglich stundenlang in dem nun kahlen Garten, hinter dem die Züge rollten und die Lokomotiven pfiffen, spazierenging. Sie solle sich viel Bewegung machen, hatte Dr. Orlam gesagt.
Im November provozierte Martha dann einen wohlüberlegten Streit mit der Putzfrau, sie beschuldigte die Person ungerecht, was zur Folge hatte, daß die Putzfrau fristlos kündigte. Nun waren die Schwestern allein.
In der Nacht des 8. Dezember 1938 setzten bei Valerie die Wehen ein. Martha rief telefonisch Dr. Orlam herbei. Am frühen Morgen des 9. Dezember schon hatte Valerie, ohne jede Komplikation wiederum, ihrem zweiten Kind das Leben geschenkt. Sie war in guter körperlicher Verfassung, ebenso das Baby. Drei Tage verbrachte Valerie im Bett, ständig besucht von dem alten Arzt, der zu seiner Verwunderung feststellte, daß sie einen gelösteren und fröhlicheren Eindruck machte als Martha, die nun die Rolle der Mutter des Kindes übernehmen mußte.
Am 12. Dezember telefonierte Martha mit ihrem Mann und sagte ihm, daß sie ein Mädchen geboren habe. Dr. Orlam schickte ein Telegramm des gleichen Inhalts und seine Glückwünsche. Er hatte auch das Problem des Stillens mittlerweile erledigt. Das Neugeborene wurde mit fremder Muttermilch genährt, die eine Frauenklinik täglich lieferte, Valeries Milchvorräte ließ Dr. Orlam durch ständige kühle Umschläge zurückgehen. Und Martha, so konstatierte er einfach, besaß nicht genügend dieser Vorräte, um das Kind selber zu nähren.
Am 17. Dezember traf Hans Waldegg in Villach ein. Er hatte Urlaub über Weihnachten erhalten. Der Major fand eine fröhliche Valerie vor und eine ernste Martha, die im Bett lag, ein laut schreiendes Baby im Arm hielt und in Tränen ausbrach, als er neben dem Bett in die Knie fiel und sie küßte, wieder und wieder, wobei er flüsterte: »Danke … Ich danke dir, meine Liebste …«
Im dämmrigen Hintergrund des Zimmers verharrte reglos, mit einem Lächeln auf den Lippen, Valerie Steinfeld.
Dieses Lächeln war auch noch auf ihrem Gesicht zu sehen, als sie – man hatte die gesetzlichen Formalitäten in aller Eile erledigt – am 21. Dezember 1938 in der Kirche zu Sankt Nikolai (laut rauschte die nahe, hoch angeschwollene Drau) vor den Pfarrer trat, der bei Beginn der Taufe, also vor Eintritt des Kindes in das Reich des Lichtes und des Lebens, noch eine violette Stola trug. Im Arm hielt Valerie das gut gegen die Kälte geschützte Baby. Der Major trug Uniform, seine Frau ein schwarzes Kostüm, ein schwarzes Hütchen und einen grauen Waschbärmantel, den Waldegg ihr zum Geschenk gemacht hatte.
»Der Friede sei mit euch«, sprach der Pfarrer. »Wie soll dieses Kind heißen?«
Draußen donnerte der Fluß, eiskalt pfiff der Nordwind.
»Dieses Kind soll Irene heißen«, antwortete Valerie mit klarer, lauter Stimme. Der Major Waldegg und seine Frau hatten den Namen gewählt. Es war ein Name, den auch drei Heilige trugen.
Der Pfarrer sprach: »Irene, was begehrst du von der Kirche Gottes?«
Valerie hörte, wie Martha, die hinter ihr stand, unterdrückt zu schluchzen begann und wie ihr Mann zärtlich und tröstend auf sie einsprach. Valerie antwortete, und ihre Stimme klang gleich einer Glocke aus Glas: »Den Glauben.«
»Was gewährt dir der Glaube?«
Valerie erwiderte: »Das ewige Leben.«
»Willst du also«, fragte der Pfarrer, »zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Gemüte und deinen Nächsten wie dich selber.«
Auch du sollst es nie erfahren, Paul, geliebter Paul, dachte Valerie, niemand soll es wissen außer mir und Martha und dem Doktor Orlam und Gott, wenn es wirklich einen Gott gibt, nein, niemand soll es wissen.
»Empfange das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn und auf das Herz«, sprach der Priester. Er sprach laut, um die brausende Drau zu übertönen.
»Ergreife den Glauben an die himmlische Lehre und wandle so, daß du ein Tempel Gottes sein kannst …«
Immer noch schluchzte Martha Waldegg. Und noch immer stand auf Valeries Lippen das geheimnisvolle Lächeln – das gleiche wie bei jener unbekannten Selbstmörderin, die man einst in Paris aus der Seine zog.
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Vers drei
Der Sinn
Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn:
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich eins und doppelt bin?
1
Die beiden Männer hatten das Abteil Erster Klasse wenige Minuten vor dem Zeitpunkt betreten, zu dem der ›Venetia-Expreß‹ Villach verließ. Sturm war aufgekommen und heulte nun um den Zug, rüttelte an den Waggons, ächzte, knatterte, pfiff und jaulte. Mächtige Schneeflügel stäubten zu beiden Seiten des Expreß empor. Die Nacht hatte begonnen. In dem Abteil brannte die Deckenbeleuchtung. Der Zug war mit fünfzig Minuten Verspätung in Villach eingetroffen.
Während Manuel auf die Ankunft des ›Venetia-Expreß‹ gewartet hatte, war er in das Bahnhofspostamt gegangen, um Wien anzurufen und sich bei Dr. Stein zu melden.
Als der Zug dann endlich einlief und zum Halten kam, stieg Manuel Aranda in einen Wagen Erster Klasse – den siebenten vom Ende des Zuges gezählt – und setzte sich in ein leeres Abteil. Fast unmittelbar darauf erschienen die beiden Männer.
»Ist hier noch Platz?« fragte der erste Mann.
Manuel, der beim Fenster saß, nickte.
»Dann sind wir so frei«, sagte der erste Mann. Wie sein Kollege und wie Manuel hatte er kein Gepäck. Die beiden Reisenden zogen ihre schweren Wintermäntel aus und nahmen die Hüte ab. Es waren große, kräftige Männer – höchstens Mitte der Dreißig. Der eine hatte braunes, der andere schwarzes Haar.
»Guten Abend, Herr Aranda«, sagte der Braunhaarige mit einer kleinen Verneigung. Er lächelte. »Erschrecken Sie nicht. Das hier …« – er wies auf seinen Begleiter – »… ist Inspektor Gamitz. Ich bin Inspektor Frohner. Beide vom Sicherheitsbüro Wien.«
»Habe die Ehre«, sagte der Schwarzhaarige, der Gamitz hieß. Die Männer wiesen Metallmarken vor.
»Sicherheitsbüro?« Manuel hob die Brauen.
»Wir sind schon mit Ihnen nach Villach heruntergefahren heute früh«, sagte Frohner. »Sie haben uns nicht bemerkt?«
»Nein …«
»Wir waren auf dem Gang draußen und im Nebenabteil«, sagte Gamitz.
»So wenig Aufsehen wie möglich, hat der Herr Hofrat uns eingeschärft.«
»Der Hofrat Groll?«
»Ja.«
»Ich habe ihm erzählt, daß ich heute nach Villach fahren wollte …«
»Na eben! Da hat er uns dann abkommandiert.«
»Aber warum?«
»Zu Ihrem Schutz«, sagte Gamitz.
»Damit Ihnen ja nichts zustößt«, sagte Frohner. »In Wien passen wir ja auch ein bissel auf Sie auf.« Er lächelte wieder. »Andere Kollegen. Haben Sie auch noch nicht gemerkt?«
»Nein.«
»Tja, der Herr Hofrat hat das so angeordnet. Er ist besorgt um Sie, wissen Sie.«
Guter alter Groll, dachte Manuel abwesend. Seine Gedanken waren noch immer bei Martha Waldegg.
»Na, und jetzt, wo es Nacht wird und Sie allein sitzen in dem Abteil, da haben wir gedacht, es ist besser, wir kommen zu Ihnen. Es inkommodiert Sie doch nicht?«