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»Überhaupt nicht.«

»Sehr schön«, sagte Frohner. Er setzte sich und entfaltete eine Zeitung. »Sie sollen sich durch uns nicht gestört fühlen.«

Der Zug ruckte an.

Bald fuhr er schnell. Villach blieb zurück. Manuel sah aus dem Fenster. Streckenlampen flogen vorbei. Im Augenblick schneite es nicht, doch der Sturm wurde immer ärger. Entfernt wanderten Autoscheinwerfer über Landstraßen, und noch weiter fort, schwächer und verloren, blinkten Lichter aus den Fenstern einsamer Gehöfte …

»Dank dir schön«, sagte Frohner plötzlich.

Manuel sah in das Abteil.

Frohner hatte eben eine Zigarette aus einem Päckchen genommen, das Gamitz ihm hinhielt. Der rauchte selber. »Oh«, sagte Frohner höflich, »entschuldigen Sie. Herrgott, und das war jetzt die letzte in der Packung!«

»Warten Sie, Herr Aranda. Ich habe noch welche.« Gamitz griff in seine Jackentasche.

»Wirklich, das ist sehr liebenswürdig, aber ich …«

»Hier, bitte, bedienen Sie sich. Österreichische Marke!« Gamitz nannte einen Namen. »Sind ausgezeichnet. Werden Ihnen schmecken. Bitte – sonst können wir auch nicht rauchen!«

»Nun also dann – vielen Dank.« Manuel griff nach dem neuen Päckchen, das Gamitz geöffnet hatte. Frohner knipste ein Feuerzeug an.

»Gut, wie?« fragte er, Manuel mit einem Lächeln betrachtend.

»Ausgezeichnet«, sagte Manuel. Die Zigarette schmeckte würzig und herb. Er inhalierte den Rauch und blies ihn durch die Nase wieder aus.

»Ich lasse das Päckchen am Fensterbrett liegen«, sagte Gamitz höflich, »Bedienen Sie sich, bitte.« Er holte ein schmales Buch hervor und streckte die Beine aus. Frohner hob wieder seine Zeitung. Die beiden Männer begannen zu lesen.

Manuel zog an der Zigarette. Er sah in die Nacht, zu den vorüberfliegenden Lichtern und den Schneewirbeln hinaus, die der Zug hochriß. Der fuhr jetzt sehr schnell. Das Fenster spiegelte. Manuel erblickte sein Gesicht. Der Waggon rüttelte plötzlich heftig, als der Zug über Weichen schoß. Die Lokomotive stieß einen langen Schrei aus. Auch in dem stillen, altmodisch eingerichteten Zimmer, in dem Manuel mit Martha Waldegg gesprochen hatte, war immer wieder das Pfeifen von Lokomotiven auf der nahen Bahnstrecke und das Rollen von Rädern zu hören gewesen …

»Jetzt wissen Sie alles, Herr Aranda …« Die Stimme der Dreiundsechzigjährigen hatte belegt geklungen. »Jetzt kennen Sie das Geheimnis. Mein Mann und ich, wir lieben Irene! Für Hans ist sie sein Ein und Alles. Es würde ihm das Herz brechen, wenn er nach all den Jahren noch hinter den Betrug käme. Darum war ich so voller panischer Angst. Können Sie das nun verstehen?«

»Ja«, hatte Manuel gesagt.

»Ich habe Ihnen voller Vertrauen alles erzählt, Herr Aranda. Bitte enttäuschen Sie dieses Vertrauen nicht. Mein Mann und Irene sollen nie die Wahrheit erfahren – das war auch Valeries Wunsch.«

Manuel blickte seine Gastgeberin an, seltsam beschämt.

»Ich werde Irene niemals ein Wort verraten«, sagte er. »Das verspreche ich.«

»Danke … Ich danke Ihnen von Herzen … Sehen Sie, ich hatte auch viel Kummer in den letzten Jahren mit ihr …«

»Kummer?«

»Nun ja … Je weiter Irene heranwuchs, desto mehr begann ich den Betrug vor mir zu verdrängen. Schließlich fühlte ich für sie wirklich wie für ein eigenes Kind … Mein Mann sowieso … Und Valerie hielt sich an unser Abkommen …«

»Danach wollte ich gerade fragen«, sagte Manuel. Jetzt rollten wieder Räder, jetzt heulte wieder eine Sirene auf dem entfernten Bahndamm, jenseits vieler kahler, tiefverschneiter Gärten. »Frau Steinfeld hat nicht den Versuch gemacht, Irene nach dem Krieg als ihr Kind zurückzuholen?«

»Nie! Sie kannten meine Schwester nicht. Die brach kein Versprechen, das sie gegeben hatte, die konnte nichts Schlechtes tun …«

Sie konnte nichts Schlechtes tun, dachte Manuel. Meinen Vater hat sie vergiftet. Und wenn er hundertmal den Tod verdiente für das, was er tat – wer gab Valerie Steinfeld das Recht, ihm das Leben zu nehmen? Gott etwa? Ach, lassen wir bloß Gott aus dem Spiel in dieser verfluchten Geschichte!

Valerie Steinfeld!

Immer noch tappe ich im dunkeln, dachte Manuel. Trotz allem, was ich nun weiß. Noch kenne ich nicht die Wahrheit. Werde ich sie kennen – jemals? Stockend sagte er: »Es muß doch eine furchtbare seelische Belastung für Frau Steinfeld gewesen sein, ihr Kind als das Kind einer anderen aufwachsen zu sehen.«

»Es war die größte seelische Belastung für sie, mir das Kind überhaupt zu geben«, antwortete die zierliche Martha Waldegg. »Aber sie hatte eine übermenschliche Selbstbeherrschung. Sie konnte immer ihre Gefühle verbergen. Nur in ihrem Innern … in ihrem Innern muß es furchtbar ausgesehen haben, sicherlich … damals, am Anfang, bei der Geburt, in den Jahren danach … Doch sie zeigte es nie, kein einziges Mal! Nie verlor sie ein Wort der Klage. Immer war sie fröhlich, wenn sie mit meiner – mit ihrer – Tochter zusammentraf, hier oder in Wien. Sie ließ sich nichts anmerken. Sie wahrte unser Geheimnis bis zum Tod. Bis zu diesem grausigen, unbegreiflichen Ende.«

»Es ist auch für Sie unbegreiflich?«

»Vollkommen, Herr Aranda. Absolut! Mein Mann und ich, wir waren wie erschlagen, als wir davon erfuhren. Es gibt einfach keine Erklärung!«

»Sie sagten vorhin, Sie hätten viel Kummer gehabt in den letzten Jahren, gnädige Frau. Wieso?«

Martha Waldegg machte eine hilflose Bewegung.

»Das Leben! Niemanden trifft die Schuld daran … Valerie ganz bestimmt nicht … Aber sehen Sie, als Irene achtzehn war und nach Wien ging, um zu studieren, da zog sie zu Valerie … und bei Valerie blieb sie dann all die Jahre, als sie in der Apotheke arbeitete, als sie das Geschäft übernahm. Die Apotheke hatte ihrem Onkel gehört, dem Bruder meines Mannes. Seine Frau war immer krank gewesen. Bei ihm hatte Irene nicht wohnen können. Sie liebte Valerie! Ich … ich wurde eifersüchtig! Es ist grotesk, ich weiß … Nun wendete sich alles vollkommen … Die beiden machten zusammen Ferien, sie verreisten … Irene kam seltener und seltener zu uns … Ihr Zuhause war mehr und mehr Wien, die Gentzgasse, Valerie … Und wir wurden ihr fremder und fremder …«

Manuel erinnerte sich an die Worte, die Irene auf dem Zentralfriedhof gesprochen hatte an dem Tage, da sie einander kennenlernten: »Valerie … Ich habe sie doch so geliebt! Mehr als alle anderen Menschen … Ja, sogar mehr als meine Mutter! Ich habe meine Mutter gern, wirklich … Aber seit ich in Wien lebte, war Valerie meine Mutter … mehr als die wirkliche … und sie wurde es immer stärker, immer stärker …«

Martha Waldegg hatte den Kopf abgewandt und fuhr sich über die Augen. Er fragte schnelclass="underline" »Und dieser Prozeß … wie ging der aus?«

»Überhaupt nicht.« Martha Waldegg hatte sich gefaßt. Sie blickte Manuel an.

»Was heißt das?«

»Er war bei Kriegsende noch nicht beendet. Er wurde nie beendet.«

»Das sagte Ihnen Ihre Schwester?«

»Ja, Herr Aranda. Als ich sie endlich wiedersah nach dem Krieg, im Februar 1946, da sagte sie es mir.«

»Im Februar 1946? Ich verstehe nicht …«

»Im Sommer 44 wurde mein Mann verwundet. Sehr schwer. Er lag in einem Lazarett bei Breslau. Lange sah es so aus, als ob er sterben müßte. Ich bekam die Erlaubnis, ihn zu besuchen – Frauen von Offizieren erhielten eine solche Erlaubnis damals noch.«

»Sie fuhren mit dem Kind – fast sechs Jahre war es damals, nicht wahr? – also nach Breslau?«

»Ja. Wir fanden ein Zimmer in Untermiete. Und ich blieb bei meinem Mann. Langsam, ganz langsam besserte sich sein Zustand. Die Front kam immer näher. Wir hatten dauernd Luftangriffe. Die Postverbindung zu Valerie riß ab, Briefe gingen verloren … Und dann, Februar 1945, mußten wir hinaus auf die Straßen, denn die Russen kamen. In einem Treck fuhren wir westwärts, dann nordwärts … immer beschossen von Tieffliegern … in eisiger Kälte … in Schneestürmen … die kleine Irene … mein immer noch schwerkranker Mann … Zuletzt landeten wir in Lüneburg. Da mußte Hans sofort wieder in eine Klinik – die Strapazen waren zu groß für ihn gewesen. Er erlitt einen Totalzusammenbruch. Die alten Wunden begannen zu eitern. Neue Operationen waren nötig. Das ganze Jahr 45 lag mein Mann in der Klinik. Ich arbeitete dort als Putzfrau …«