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Das hatte Cayetano in seiner Notiz hinterlassen. Er war im Hotel gewesen, als Irene um 22 Uhr kam. Er hatte ihr erzählt, auch er, Cayetano, und die beiden Anwälte in seiner Gesellschaft müßten noch einmal in die Botschaft zurück.

»Es ist alles sehr wichtig und eilig, nicht wahr?« fragte Irene nun.

»Ja, sehr. Cayetano soll zurück nach Buenos Aires. Und es gibt wahrhaftig eine Menge zu regeln …« Hoffentlich haben sie alles in meiner Abwesenheit vorbereitet, dachte Manuel. Jetzt ist Cayetano mit den Anwälten sicher noch in ein Nachtlokal gegangen, wie ich ihn kenne.

»Ich habe am Nachmittag und am Abend hier angerufen«, sagte Irene. »Sie waren nicht da. Ich hätte noch einmal anrufen können, später, aber …« Sie brach plötzlich ab.

»Aber?«

»Ich … ich hatte keine Ruhe. Es ist zu lächerlich! Ich zog mich an und fuhr hierher, denn ich wollte Sie unbedingt heute noch sehen! Einen ganzen Tag lang haben wir uns nicht gesehen. Das machte mich so nervös. Ich bin sonst nicht so, wirklich nicht. Aber heute … und bei Ihnen …« Irene senkte den Blick. »Ich bin eine dumme Gans«, sagte sie leise. »Ich … ich hatte auf einmal das Gefühl, daß Sie in Gefahr wären … daß etwas passiert sei …«

Er sah sie unentwegt an, und sein Herz schlug jetzt heftig. Wir sind im Begriff, uns ineinander zu verlieben, dachte er. Oder wir lieben uns schon. Ich liebe die Tochter der Mörderin meines Vaters. Sie liebt den Sohn des Mannes, den ihre Mutter ermordet hat. Was für eine Situation …

Manuel, der sich neben Irene gesetzt hatte, sagte: »Mir ging es genauso. Ich hatte den ganzen Tag nur einen Gedanken: Sie heute noch zu sehen, heute noch zu Ihnen zu fahren, Sie zu besuchen, wenn Sie es erlaubten …«

»Wirklich?« Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren sehr groß.

»Wirklich«, sagte er und überlegte: Es ist wahr, es ist wirklich wahr. Sobald ich wieder zu mir kam und denken konnte, dachte ich das …

Er war erst zwei Stunden, nachdem er die Besinnung verloren hatte, wieder zu sich gekommen – auf dem breitgeklappten Bett eines Schlafwagenabteils. Ein Mann, den er noch nie gesehen hatte, saß am Fußende des Bettes.

Manuel fuhr zurück.

»Nicht doch«, sagte der Mann. »Seien Sie ganz ruhig, Herr Aranda. Ich bin Kommissar Lauter von der Kripo Klagenfurt. Hier ist mein Ausweis. Sehen Sie ihn gut an.« Er hielt ein Zellophanetui vor Manuels Gesicht. »Und hier ist meine Dienstmarke. Sie hätten sich beides zeigen lassen sollen von den Lumpen. Um ein Haar wäre ihr Plan geglückt – wenn man uns nicht rechtzeitig verständigt hätte.«

»Verständigt? Wer hat Sie verständigt?«

»Das wissen wir nicht. Ein Ausländer auf jeden Fall. Er hat so gesprochen.«

»Gesprochen?«

»Er hat uns angerufen.«

»Wann? Wo?«

Lauter, ein älterer, gemütlicher Mann, berichtete.

Die Direktion der Kriminalpolizei Klagenfurt war an diesem Nachmittag telefonisch alarmiert worden. Eine fremdländisch klingende Stimme hatte mitgeteilt, daß zwei Männer versuchen würden, Manuel Aranda, der sich mit dem ›Venetia-Expreß‹ auf der Fahrt von Villach nach Wien über Klagenfurt befand, zu entführen. Daraufhin war Lauter mit einigen Beamten zum Bahnhof gerast und, als der ›Venetia-Expreß‹ einlief, in den siebenten Wagen von hinten gestürzt – der unbekannte Anrufer hatte genau erklärt, wo Manuel zu finden sein werde.

»Er muß von Villach aus angerufen haben, bevor der Zug abgefahren ist. Er hat uns sogar Ihr Abteil genannt …«

In dem bezeichneten Abteil hatten Lauter und seine Beamten den zusammengebrochenen Manuel und zwei Männer vorgefunden, welche zwei andere Männer mit Pistolen in Schach hielten. Alle waren zur Bahnpolizei gebracht worden. Der Expreß mußte warten. Ein Arzt untersuchte Manuel und gab ihm eine Injektion. Auch ein dritter Mann, der vor dem Bahnhofsgebäude in einem Wagen saß – auf ihn hatte der anonyme Anrufer ebenfalls aufmerksam gemacht – wurde festgenommen …

»Wo sind die drei jetzt?«

»Vorne, im Dienstabteil, Herr Aranda. Drei meiner Leute bewachen sie. Der Amerikaner …«

»Was für ein Amerikaner?«

»Einer von den beiden Männern, die diese falschen Kriminalbeamten in Schach gehalten haben. Der andere war Russe. Sie haben uns ihre Pässe gezeigt. Der Amerikaner hat verlangt, daß wir unbedingt sofort den Herrn Hofrat Groll anrufen. Wir haben es getan, und er hat gesagt, wir sollen die drei Brüder nach Wien bringen, er kommt zum Bahnhof, sie in Empfang zu nehmen. Dieser Amerikaner und dieser Russe, die haben erklärt, daß sie Freunde von Ihnen sind. Legen Sie sich zurück, Herr Aranda. Locker, ganz locker.«

»Freunde …«

»Irgendwelche Geheimdienstler natürlich! Bei uns in Österreich wimmelt es von solchen Leuten, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen … Auf jeden Fall haben sie Ihnen aber wirklich geholfen. Der Herr Hofrat hat gesagt, er übernimmt die drei Brüder. Das ist eine Wiener Affäre. Der Mann, der angerufen hat, hat Ihren Namen genannt! Wir wissen Bescheid über den Fall Aranda … ich meine, wir wissen, was in den Zeitungen gestanden hat …«

»Wo sind dieser Amerikaner und dieser Russe?«

Der Kommissar pfiff durch die Zähne.

»Verschwunden! In dem großen Durcheinander in der Wachstube von der Bahnpolizei. Da waren so viele Leute. Ich habe mit Wien telefoniert. Beamte sind raus und rein gekommen. Auf einmal haben wir gemerkt: Der Russe und der Amerikaner sind nicht mehr da! Ich habe es dem Herrn Hofrat am Telefon berichtet. Wissen Sie, was der gesagt hat? Genauso hat er sich das vorgestellt, hat er gesagt!« Ein hohles Brausen ertönte plötzlich. »Keine Angst, das ist ein Tunnel, ein ziemlich langer. Wir sind schon am Semmering …«

Der ›Venetia-Expreß‹ war mit einer Verspätung von 55 Minuten in Wien eingetroffen. Groll, in einem schweren Wintermantel, die Baskenmütze auf dem silbergrauen Haar, hatte mit mehreren Beamten wirklich auf dem Bahnsteig gewartet, Manuel begrüßt und die drei Verhafteten gemustert, die, aneinandergefesselt, aus dem Dienstwagen geführt wurden. »Ach, alte Bekannte …« Groll nickte freudlos. »Bringt sie ins Sicherheitsbüro, ich komme gleich nach.«

»Das ist eine Gemeinheit! Wir haben doch gar nichts gemacht! Dieser Ami und der Russ …« Der Mann, der sich Gamitz genannt hatte, schwieg plötzlich, denn Groll war sehr dicht an ihn herangetreten und sagte sehr leise: »Kusch, Ferdl.«

Seine Beamten kümmerten sich um alles Weitere. Groll brachte Manuel in einem Dienstwagen zum ›Ritz‹. Sie saßen im Fond. Ein Beamter chauffierte. Als der Wagen die Prinz-Eugen-Straße hinabrollte, sagte Groll verbissen: »Zum Kotzen ist das!«

»Was?« Manuel sah ihn an.

»Alles! Die Zustände in unserm Land! Dauernd war zu erwarten, daß Ihnen etwas passiert – aber ich konnte Sie nicht bewachen lassen. Ich habe Ihnen gleich am Anfang gesagt: Von Behördenseite haben Sie mit keiner Hilfe zu rechnen, erinnern Sie sich?«

»Genau. Und ich habe gesagt, das ist mir egal.«

»Ach, Manuel …« Der Hofrat wirkte erschöpft an diesem Abend. Er schraubte ein Röhrchen auf und schluckte einige Pillen.

»Was ist?«

»Das Wetter macht mir ein bißchen zu schaffen.«

»Nein, Sie wollten etwas anderes sagen.«

Der Hofrat murmelte: »Ich wollte sagen, daß ich seit unserer ersten Begegnung immer Angst um Sie habe, Tag und Nacht …«

»Es ist doch gutgegangen – dank meinen Freunden! Solange das Material im Tresor liegt, passiert mir schon nichts! Ich werde eben von anderen Leuten bewacht – dauernd.«

»Ein Trost«, knurrte Groll. Dann fragte er: »Was war bei dieser Frau Waldegg?«

»Das ist eine lange Geschichte …«

»Na schön. Ich setze Sie im Hotel ab. Sie werden Ihren Herrn Cayetano sehen wollen, wie?«

»Ja, das muß ich wohl.«

»Wenn Sie sich nicht zu müde fühlen, kommen Sie später noch in die Berggasse und erzählen mir alles.«

»In die Berggasse?«

»Ich werde wohl eine ganze Weile mit diesen drei Kerlen zu tun haben, bis ich weiß, wer hinter ihnen steht«, hatte der Hofrat Groll gesagt …