»Eine Krawatte.«
Immer warst du für deine Familie da, trotz deiner vielen Arbeit! Wenn ich Ferien hatte, nahmst du dir frei, und wir fuhren nach Mar del Plata, Mama, du und ich. In Mar del Plata hast du mir das Schwimmen beigebracht, und viele Jahre später sind wir beide da fischen gegangen, nur wir zwei. In der Nähe der Küste haben wir Makrelen gefangen, oberseits blau, unterseits silbrig mit dunklen Querbinden, und wunderschöne Meerbarben. Und dann, als wir mit dem großen Kutter hinausfuhren auf die hohe See und Schwertfische fingen, Riesen! Einer war fünf Meter lang und 360 Kilogramm schwer, und er zerschlug uns das halbe Boot …
»Zwei goldene Manschettenknöpfe. Eine goldene Krawattennadel.«
Zur Entenjagd bist du mit mir in die Hügel von Tandil gefahren, mein erstes Gewehr bekam ich zum fünfzehnten Geburtstag, und bei Tandil gingen wir beide durch die klare Luft und die wunderbare Landschaft der Sierra zwischen dem Meer und der flachen Pampas.
»Ein Paar Socken mit Sockenhaltern.«
Der Mann, der da sprach, war ein Angestellter des Gerichtsmedizinischen Instituts, hohlwangig, mit so dicken, funkelnden Brillengläsern, daß Manuel seine Augen nicht erkennen konnte. Er trug einen grauen Arbeitsmantel und legte auf einen Tisch, was Manuels Vater im Augenblick des Todes am Leib gehabt hatte, umständlich und genau, und er schrieb jedes Stück namentlich in große Listen ein.
Der Mann mit dem grauen Kittel arbeitete im weißgekachelten Keller des Instituts, wo es nach Lysol und anderen Desinfektionsmitteln stank. Hier gab es keine Fenster. Elektrisches Licht brannte überall. Wenn Manuel sich umdrehte, konnte er durch die offene Tür des Magazins über einen langen Gang in eine riesige Halle blicken. Einige leere, hohe weiße Tische standen da auf dem feuchten, spiegelnden Steinboden. In einer Wand gab es viele stahlbeschlagene quadratische Türen. Sie verschlossen die Fächer, in denen die Leichen aufbewahrt wurden. Hinter einer Tür lag noch immer Manuels Vater. Er durfte ihn nicht mehr sehen. (»Ja, was glauben denn Sie, Herr? Da war doch eine Obduktion angeordnet. Ihr Herr Vater wurde … er ist nicht mehr … also, Sie können ihn unter keinen Umständen sehen!«)
Ein wunderbares Haus hast du uns gebaut draußen in Olivos, dem schönsten Vorort von Buenos Aires, ganz nahe dem Rio de la Plata, am Strom. Wie groß ist dieses Haus, wie groß der Park, in dem ich mit dir Tennis und Kricket gespielt habe …
»Eine Brieftasche. Darin ein Reisepaß, fünf Fotos …«
Fotos von Mama und mir, ich weiß …
»… ausländische Dokumente – was ist das?«
»Führerschein und Kennkarte.«
»Führerschein und Kennkarte …« Die Brillengläser des Grauen blitzten wie Brenngläser, grell, silbern. »… verschiedene Geldscheine …« Er zählte hüstelnd, wobei er zwei Finger mit den Lippen beleckte. »Das sind 25 860 Schilling in Noten, und in den Taschen vom Anzug und vom Mantel waren noch 1540 Schilling in Noten und 60 Groschen … Machen S’ nicht so ein ungeduldiges Gesicht, lieber Herr, das muß alles seine Ordnung haben, das muß ich alles eintragen, und nachher müssen Sie mir die Listen unterschreiben, daß Sie auch alles gekriegt haben … Dann sind da 865 amerikanische Dollar in Noten und 74 500 Pesos, auch in Noten …
Was ist das, bittschön?«
»Traveller-Schecks.«
»Aha. Möchten Sie sie bittschön zählen und mir sagen, wieviel es ist und wie man das schreibt?«
Ich bin nun reich. Aber alles, was ich besitze, hast du verdient, erschuftet, aufgebaut. Nun bist du tot. Nun gehört alles mir. Ich würde alles weggeben, alles, wenn du nur wieder lebendig werden könntest, du, der du da drüben hinter einer dieser Türen liegst, obduziert, tot seit fünf Tagen nun schon, es ist verboten, dich zu betrachten …
Manuel Aranda buchstabierte ›Traveller-Schecks‹.
Und es stank nach Lysol in der Magazin-Kammer, und irgendwo lief Wasser, stetig, ohne Ende, und Männer in Grau schoben eine hohe Bahre draußen auf dem Gang vorbei, darauf lag ein regloser Körper, von einem Laken verdeckt …
»Ein Schlüsselbund mit eins, zwei, drei … sechs Schlüsseln …«
Manuel Aranda war erst gegen vier Uhr früh von seinem Gespräch mit dem Hofrat Groll ins Hotel heimgekehrt. Um neun Uhr war er aus bleiernem Schlaf erwacht. Er badete, frühstückte und mietete einen Wagen, einen blauen Mercedes, denn er hatte viel vor in Wien. Zuerst mußte er die Leiche seines Vaters freibekommen. Also fuhr er gegen halb elf Uhr in die Sensengasse, nicht ahnend, daß es noch einen ganzen Tag dauern würde, bis sein Vater endlich eingesargt und zum Transport im Flugzeug bereit war.
(Und Clairon saß, mit zwei Männern, in dem Opel-Kapitän, der nachts zuvor in der Hahngasse vis-à-vis dem Sicherheitsbüro geparkt hatte, und die neuen Männer der neuen Schicht zeigten ihm diesen Manuel Aranda, wie er das ›Ritz‹ verließ, und sie folgten dem Mercedes und zeigten Clairon Manuel Aranda wiederum, wie er das Gerichtsmedizinische Institut betrat. Clairon war am frühen Morgen in Wien gelandet. Sie fuhren den ganzen Vormittag hinter Manuel Aranda her und zeigten Clairon seinen Mann immer wieder, und am Nachmittag zeigten sie ihm die Filme und die Fotografien, die aus Buenos Aires stammten und mit der gleichen Maschine eingetroffen waren wie Manuel.)
»Ein Taschentuch …«
Endlich war der Graue fertig. Den zusammengerollten Mantel, den Anzug, die Schuhe und alles andere hatte er in einen großen Karton gepackt, den er nun schloß und mehrfach mit starkem Kupferdraht sicherte. Die zusammengeflochtenen Enden der Drähte schützte er durch Bleiplomben, die er mit einer schweren Zange eindrückte. Sie trugen Aufschrift und Siegel des Instituts. Dann ließ er Manuel die Listen unterschreiben. Wasser strömte noch immer irgendwo, und andere Männer mit anderen hohen Bahren, auf denen verdeckte Körper lagen, passierten den nassen Gang.
Manuel gab dem Angestellten einen Geldschein, dann stand er, den Karton an einem Griff tragend, reglos da, sah die metallbeschlagenen Türen in der Wand des großen Saals an, und dachte: Neben Mama sollen sie dich begraben. Ich werde nicht dabeisein. Ich werde hier sein, in Wien. Und ich will hierbleiben, bis ich die Wahrheit kenne, das schwöre ich dir, Vater, den ich liebe, den ich immer lieben werde …
»Wenn der Herr sich jetzt in die Verwaltung hinauf bemühen wollen«, sagte der Graue, höflich hüstelnd. »Da wären noch Formalitäten zu erledigen.«
In der Verwaltung erwarteten sie ihn bereits. Sie waren alle sehr ernst und sehr höflich. Sie konnten nichts dafür, daß sein Vater ermordet worden war – sie hatten ihre Vorschriften.
Sie gaben Manuel Formulare, die er selber ausfüllen mußte. Dann setzte einer von ihnen sich an eine Schreibmaschine und begann, andere Formulare nach den Angaben von Manuel vollzutippen. Dabei stellte sich heraus, daß noch Dokumente von der Polizei fehlten. Ohne diese Dokumente durften sie die Leiche nicht freigeben. Es gab Streit. Manuel sah ein, daß Streit sinnlos war. Er fühlte sich so elend und zerschlagen wie noch nie im Leben.
»Jetzt fahren Sie schön in die Berggasse, und da lassen Sie sich das alles geben, was ich hier aufgeschrieben habe, und dann kommen Sie zu uns zurück. Aber bis drei Uhr. Nachher ist hier geschlossen. Nein, halt, der Karton bleibt da, tut mir leid.«
»Aber …«
»Vorschrift, lieber Herr! Sie brauchen auch für die Übernahme des Eigentums ihres Vaters noch eine Vollmacht von der Polizei. Und weiter heißt es in der Vorschrift, daß wir das Eigentum nur zusammen mit dem Leichnam übergeben dürfen.«
»Also wann?«
»Ja, wenn Sie bis drei mit allen Papieren zurück sind, die noch fehlen, dann werden wir morgen früh alles für Sie bereit haben.«
»Morgen früh erst?«
»Was glauben Sie, was da noch zu erledigen ist. Ein passender Sarg muß her. Der Leichnam muß aus dem Kühlfach. Gar nicht so einfach. Wir brauchen noch einen zweiten, luftdichten Metallsarg für den Transport. Morgen früh um zehn, ja, da werden wir es geschafft haben. Jetzt fangen Sie nicht noch einmal an, Herr Aranda, wir tun nur unsere Pflicht. Schauen Sie lieber, daß Sie schnell in die Berggasse kommen.«