»Guten Abend, Herr Aranda.« Der Chefmixer der Bar verneigte sich.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
»Was haben Sie getrunken, Irene?«
»Cognac.«
»Dann zwei Cognacs, bitte.«
»Sehr wohl, Herr Aranda.« Der Mixer eilte fort, lächelnd und geschäftig. Alle Angestellten lächeln und sind geschäftig, dachte Manuel. Keiner verliert ein Wort darüber, daß Graf Romath gestorben ist. Sie würden gewiß vor den Gästen auch kein Wort verlieren und lächelnd geschäftig und höflich sein, wenn ich gestorben wäre oder ein anderer Gast. Es kommen immer neue Gäste. Es wird ein neuer Direktor kommen. Auch der Skandal um den stellvertretenden Receptions-Chef Lavoisier und um diesen Pagen ist vertuscht worden. Wirklich ein vorbildlich geführtes Hotel, das ›Ritz‹ …
»Bianca Barry hat angerufen«, sagte Irene.
»Bianca Barry …«
»Die Frau des Malers. Jugendfreundin von Heinz. Die mir sagte, daß sie vor ihrem Mann lauter Lügen erzählt hätte!«
»Ach so, ja!«
»Sie versuchte es wieder zuerst hier – vergebens.«
Die Bar war leer, nur an der Theke saßen zwei Paare. Sanft und sentimental drang die Musik des kleinen Orchesters aus der Halle herein. Manuel dachte: Der Mund. Die Nase. Die Ohren. Valerie Steinfeld hat auf den Fotos eine ganz ähnlich geformte Nase, ähnliche Ohren, einen ähnlichen Mund gezeigt. Ob Irene das nie bemerkt hat? Phantastisch, es ist phantastisch. Die Tochter Valerie und Paul Steinfelds, hier sitzt sie, neben mir, spricht mit mir, lächelt mich an, ist hergekommen, weil sie mich heute unbedingt noch sehen wollte …
»Manuel!«
»Ja?« Er schrak auf.
»Warum starren Sie mich so an?«
»Sie … Sie sind so schön, Irene. Schöner als jede andere Frau, die ich bisher gesehen habe.«
»Ach, hören Sie auf! Es gibt viele schöne Mädchen in Argentinien. Gewiß kannten Sie eine Menge.«
»Nicht eine Menge … ein paar … aber keine war so wie Sie, nein, keine!« Sie blickte auf den Kacheltisch.
»Diese Bianca Barry …«
»Ja?«
»Sie will uns wiedersehen und die Wahrheit erzählen, sagte sie.«
»Wann will sie uns sehen?«
»Morgen nachmittag. Da hat sie Zeit. Ihr Mann fährt in der Früh nach Linz, zur Eröffnung irgendeiner Galerie. Er kommt erst spätabends heim.«
»Morgen nachmittag, das ist gut. Ich habe noch mit Cayetano und den Anwälten zu tun. Und dann fand ich eine Nachricht beim Portier. Forster hat angerufen. Er erwartet mich morgen um elf.«
Der Chefmixer brachte die beiden Cognacs.
»Ich trinke auf die schönste Frau der Welt«, sagte Manuel.
»Sie sollen nicht so reden!«
»Auf die schönste Frau der Welt«, wiederholte er und sah sie an, wobei er leicht ihr Kinn hob. »Auf daß sie wieder einmal glücklich sein möge und lachen kann – und ich mit ihr.«
»Nein«, sagte Irene. »Wir trinken auf Valerie. Daß sie glücklich sein möge dort, wo immer sie jetzt ist.«
»Auf Valerie also«, sagte Manuel.
Sie tranken.
»Wo will diese Bianca Barry uns treffen?« fragte Manuel danach.
»Beim Haupteingang des Zentralfriedhofs«, sagte Irene.
»Was bedeutet das? Was will sie dort?«
»Das weiß ich nicht. Ich fragte sie, aber sie sagte, sie sei in Eile, sie höre ihren Mann kommen und müsse Schluß machen.«
»Beim Haupteingang des Zentralfriedhofs …«, murmelte Manuel verblüfft.
»Um fünfzehn Uhr.«
Er sah Irene unentwegt an.
Valeries Tochter. Valeries Tochter.
Der Gedanke erfüllte ihn ganz, hämmerte in seinem Schädel.
Valeries Tochter.
»Beim Haupteingang, da sind wir einander zum erstenmal begegnet«, sagte er.
»Vor sieben Tagen. Sieben Tage ist das erst her«, sagte Irene.
»Acht. Beinahe schon acht. Ich mißtraute Ihnen.«
»Sie haßten mich!«
»O nein.«
»O doch!«
»Acht Tage … sie kommen mir vor wie acht Jahre«, sagte er. »Es ist, als würde ich Sie schon acht Jahre kennen, Irene. Geht es Ihnen nicht ebenso?«
Sie sah ihn stumm an, dann nickte sie kurz.
»Hören Sie!« Er richtete sich auf. »Das Orchester … das Klavier, meine ich …«
Langsam, melodisch und leise spielte der alte Mann am Flügel, draußen in der Halle: ›Willst du dein Herz mir schenken …‹
Durch eines der großen Fenster in der Wand der Bar blickte der Pianist Manuel und Irene an und neigte lächelnd den Kopf. Die anderen vier Musiker, die ihre Instrumente hatten sinken lassen, verneigten sich gleichfalls.
»Unser Lied«, sagte Irene.
»Charlie!« rief Manuel halblaut.
Der Mixer stand sofort neben ihm. Auch er lächelte.
»Was der Herr Wawra spielt, gelt?«
»Ja. Woher …«
»Das ist ganz komisch«, sagte Mixer Charlie. »Er hat es mir erzählt, der Herr Wawra … der Pianist.«
»Was?«
»Sein Erlebnis. Heute vormittag war er am Graben. Dort gibt es ein großes Musikaliengeschäft. Die sind spezialisiert auf alte Noten. Er sammelt, der Herr Wawra, wissen Sie. Und wie er so herumkramt und ein Verkäufer mit ihm redet, da mischt sich ein Mann ein, der auch in alten Notenblättern wühlt. Dem Gespräch hat er entnommen, daß der Herr Wawra hier im Hotel arbeitet. Und da sucht dieser Mann – Namen hat er keinen genannt – die Noten zu dem Lied heraus, das der Herr Wawra jetzt spielt, und der sagte: ›Bitte, spielen Sie dieses Lied manchmal, wenn Sie einen Gast des Hotels, einen gewissen Herrn Manuel Aranda, mit einer jungen Dame zusammensitzen sehen, die braunes Haar und braune Augen hat.‹ Der Mann hat Sie dem Herrn Wawra ganz genau beschrieben, gnädiges Fräulein. Er muß Sie kennen!«
»Ja, er kennt uns«, sagte Manuel.
Charlie verbeugte sich und ging an die Theke zurück.
Der Pianist begann das Lied noch einmal.
Manuel legte eine Hand auf eine Hand Irenes.
Sie legte ihre zweite Hand auf seine.
Der alte Mann draußen am Flügel spielte langsam und auf ein Notenblatt blickend die Melodie weiter, und Manuel wünschte, daß sie nie zu Ende gehen möge, und Irene wünschte das gleiche, und beide wußten, was der andere dachte, aber sie sprachen nun nicht mehr, kein Wort, lange Zeit.
3
»Valerie Steinfeld … eine außergewöhnliche Frau auf jeden Fall«, sagte der Hofrat Groll. Er ging in seinem Büro auf und ab, denn er hatte, mit seiner halben Lunge, leichte Atembeschwerden, besonders beim Sitzen. Die starke Schreibtischlampe brannte, ein Fenster stand halb offen, die Zentralheizungskörper glühten. Es war alles wie immer. Auf Wien fielen seit einer Stunde wieder Unmengen von Schnee. Es war fast zwei Uhr früh. Manuel hatte Irene heimgebracht und danach das Sicherheitsbüro aufgesucht. Er wollte wissen, wie das Verhör der drei Männer verlaufen war.
»Erzähle ich Ihnen gleich«, hatte Groll gesagt. »Schäfer nimmt noch das Protokoll auf. Erzählen Sie mir inzwischen, was Sie in Villach erfahren haben.«
Also hatte Manuel von seinem Gespräch mit Martha Waldegg berichtet, während Groll in dem großen Büro auf und ab schritt. Als Manuel endlich schwieg, war der Hofrat beim Fenster stehengeblieben, um in das Schneetreiben hinauszusehen. Dann hatte er seine Wanderung wieder aufgenommen und von Valerie Steinfeld zu sprechen begonnen.
»… je mehr ich von ihr erfahre, um so mehr bewundere ich die Person.« Groll blieb stehen und schluckte Pillen. »Ihnen geht es auch so, trotz allem, wie?«
»Ja«, sagte Manuel. »Mir geht es auch so.« Er sah, daß Groll seine Krawatte herabzog und den Hemdkragen öffnete.
»Ist Ihnen sehr schlecht?«
»Na, wohl fühle ich mich gerade nicht. Keine Angst. Habe ich häufig bei solchem Wetter. Da drückt das Zwerchfell gegen das Herz. Und davon bekommt man peinliche Gefühle.« Groll griff in die Tasche, holte ein Fläschchen Underberg hervor, schraubte es auf und trank. »Trage ich immer bei mir!« Er rülpste kräftig. »Verzeihung, aber das muß sein. Jetzt wird mir gleich wohler werden. Noch einmal! Tut mir leid. Ah!« Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen und atmete tief. »Schon leichter. Wenn Ihnen hier mal flau wird – gleich sagen. Ich habe immer auch ein Fläschchen für Sie!«