»Hören Sie, Herr Hofrat, sollten Sie nicht ausspannen … sich krank schreiben lassen?«
»Und wer macht den Kram hier? Kommt gar nicht in Frage«, sagte Groll. »Außerdem: krank schreiben lassen, ins Bett legen – also das ist das letzte! Da wird man ja erst richtig krank! Nein, nein, jetzt geht es mir schon wieder prächtig! Schauen Sie mich nicht so ängstlich an, mein Junge. Sie haben völlig recht: Ihre Irene – Sie erlauben doch, daß ich mich so ausdrücke. Sie werden ja schon rot, wenn Sie nur von ihr sprechen –, Ihre Irene soll davon nichts erfahren.«
Es klopfte, und Inspektor Schäfer trat ein.
»Verzeihung, ich wußte nicht …«
»Wir haben auf Sie gewartet! Sie kennen sich ja.« Groll winkte den jungen Mann mit der Hornbrille näher. »Zeigen Sie einmal her …« Er nahm Schäfer einige Blätter ab und überflog den Schreibmaschinentext. »Na also«, sagte er dann zufrieden. »Schön haben sie geschrieben, alle drei. Ab in die Rossauer Kaserne. Ich habe mit Hanseder telefoniert. Die Staatspolizei kümmert sich um die Brüder. Bei uns bleibt alles still. Keine Aussendung an die Presse, keine Fragen beantworten, die Staatspolizei will das nicht.«
»Wie immer«, sagte Schäfer.
»Wie immer, ja. Was sollen wir machen?«
»Nichts«, sagte Schäfer. »Wie immer.«
»Wir werden uns mit den Chinesen anlegen. So schauen wir aus«, sagte Groll.
»Mit den Chinesen?« Manuel stand auf. »Was haben Chinesen in der Geschichte zu tun?«
»Sie waren die Auftraggeber«, sagte der Hofrat. »Es gibt eine rotchinesische Handelsmission in Wien. Die Kerle, die Sie im Zug betäubten, heißen natürlich nicht Frohnef und Gamitz. Für Sie uninteressant, wie sie wirklich heißen. Die beiden und der Chauffeur, der vor dem Bahnhof in Klagenfurt wartete, sind alte Bekannte von uns. Gehören zu einer Bande, die sich auf so etwas spezialisiert hat.«
»Auf was?«
»Derartige Überfälle. Entführungen. Einschüchterungen. Einbrüche. Beschaffung von Material«, sagte Groll. »Verdammt noch mal, dieser Underberg, der tut wirklich Wunder. Ich fühle mich wieder ganz in Ordnung! Setzen Sie sich doch, Manuel. Den Albanern mißlang ihr Plan. Nun haben es ihre großen Brüder versucht. Völlig logisch. Und gar nicht phantastisch – bei uns in Wien. Was, Schäfer?«
»Nein, Herr Hofrat«, sagte der traurige junge Mann. Bei seinem letzten Besuch in dem Sanatorium vor Baden hatten die Ärzte ihm von einer leichten Besserung bei Carla berichten können. Leichte Besserung, das bedeutete doch nur, daß es noch länger dauern würde, bis Carla, seine geliebte Frau, tot war. Das bedeutete, daß er für diese längere Zeit noch mehr würde zahlen müssen, weiter, immer weiter. Schäfer fügte mechanisch hinzu: »Die Kerle haben für jeden gearbeitet, der ihre Dienste wollte, Herr Aranda. Ost oder West – das war ihnen egal.«
»Und sie hatten zu tun!« Der Hofrat schlug auf die Tischplatte. »Kamen kaum nach! Davon können ganze Banden leben bei uns, Manuel. Ich habe Ihnen ja die Wiener Situation erklärt. Wir wußten oft, daß die Kerle wieder einmal ihre Finger im Spiel hatten. Aber bisher konnten wir es ihnen nie nachweisen.«
»Diesmal schon«, sagte Schäfer.
»Diesmal schon, ja.« Groll nickte. »Sie haben eingesehen, daß Leugnen keinen Sinn hat. Ich wurde nämlich von Ihrem Freund Santarin angerufen. Tüchtiger Mann! Seine Leute und amerikanische Agenten verfolgten alle Operationen der Bande. Die Chinesen müssen von den Albanern erfahren haben, daß Sie täglich Ihren Anwalt anrufen. Sie sollten im Zug betäubt und verschleppt werden.«
»In die Berge«, sagte Schäfer. »Auf eine einsame Alm. Santarin konnte sogar genau sagen, wo die liegt.«
»Wir haben uns mit dem Bundesheer in Verbindung gesetzt. Kriminalbeamte flogen in einem Hubschrauber von Aigen im Ennstal aus los, während Sie noch in diesem Schlafwagen schlummerten. Es stimmte. In der Almhütte war alles für Ihren Empfang vorbereitet … Essen, Unterkunft … Wir haben noch zwei Männer da oben verhaftet. Die verquatschten sich, aber gründlich! Als wir unseren drei Kerlen ihre Aussagen vorhielten, gaben sie auf. Von den Chinesen haben sie keine Hilfe zu erwarten, das wissen sie. Die Chinesen kennen sie nicht mehr.«
»Und was geschieht nun?«
Groll grunzte verächtlich.
»Was schon? Beinahe fast gar nichts! Die Staatspolizei dreht die drei jetzt natürlich um.«
»Was tut sie?«
»Sie läßt sie als V-Männer arbeiten, für uns!« Groll grinste. »Wien, Wien, nur du allein. Hier geht es immer noch zu wie in Metternichs Zeiten. Wir arbeiten mit Konfidenten, ständig.« Groll sah auf die Papiere. »Es wäre Ihnen nichts zugestoßen, da oben auf der Alm. Sie sollten nur ein paar Tage festgehalten werden.«
»Aber warum – ach so!«
»Schon kapiert, ja? Damit Sie ein paar Tage den Doktor Stein nicht anrufen konnten und dieser dann, wie verabredet, seinen Tresor öffnen und Ihr Eigentum der Schweizer Botschaft zur Publikation übergeben würde, weil er – wie wir – hätte annehmen müssen, Ihnen sei etwas zugestoßen.«
»Glauben Sie, das ist die Wahrheit?«
»Die Hütte war geradezu mit Komfort auf Ihren Empfang vorbereitet! Was, Schäfer?«
»Ja, Herr Hofrat.« Geld. Ich brauche Geld. Carla muß im Sanatorium bleiben. Das Inserat – ob sich da wirklich jemand melden wird? Was er von mir will? Ob ich es tun kann und Geld bekomme, viel Geld? Für viel Geld täte ich jetzt schon fast alles. »So etwas kann sich wiederholen«, sagte Schäfer.
»Das ist mir klar.« Manuel starrte vor sich hin. »Ich werde besser aufpassen! Aber ich gebe nicht auf! Ich gebe nicht auf!«
»Natürlich nicht …« Groll seufzte. »Und da wir sicher sein können, daß sich heute und jetzt alle Herrschaften um dieses schöne Gebäude versammelt haben, um festzustellen, wie lange Sie bei mir bleiben und was Sie dann tun, wollen wir es wenigstens einmal zu einer kleinen Demonstration kommen lassen. Schäfer!«
»Herr Hofrat?«
»Sie gehen möglichst auffällig mit Herrn Aranda aus dem Haus und fahren mit ihm zum ›Ritz‹. Wie seine Leibwache. Machen Sie ein bißchen Theater, Sie verstehen schon. Auch noch vor dem Hotelportal. Ein ganzer Geleitzug wird euch folgen. Die Burschen sollen den Eindruck bekommen, daß wir Österreicher uns zumindest jetzt um Ihr Wohlergehen kümmern, Manuel. Ich werde auch tatsächlich ab und zu einen Beamten für Sie absetzen«, sagte Groll. »Das nehme ich auf meine Kappe! Heute nacht ist es besonders wichtig. Sie machen das schon, Schäfer.«
»Natürlich, Herr Hofrat.«
»Dann nehmen Sie sich ein Taxi, kommen hierher zurück und fahren mit Ihrem VW heim. Das war wirklich eines langen Tages Reise in die Nacht. Ich bin zu Hause, falls noch etwas los ist. Aber auf Sie kann ich mich ja verlassen, Schäfer.«
»Gewiß, Herr Hofrat, das können Sie.«
4
Ulrich Schäfer hatte ein ›bißchen Theater‹ gemacht, wie von Groll verlangt. Er war vor dem Portal des ›Ritz‹ noch neben Manuel stehengeblieben, hatte den Ring hinauf und hinunter geblickt und dabei tatsächlich mehrere Wagen entdeckt, die ihnen gefolgt waren und nun in den Seitenbahnen der Ringstraße, hinter Bäumen, parkten. Nichts regte sich. Manuel und Schäfer standen im grellen Licht des Hoteleingangs. Sie schüttelten einander die Hände. Manuel ging in das ›Ritz‹ hinein. Schäfer schlug den Mantelkragen hoch, wobei er eine Portion Schnee in den Nacken bekam – es schneite heftig –, und eilte zu einem entfernten Taxistand. Ein einsamer Wagen wartete dort. Ehe er ihn erreichte, rollte ein anderes Taxi auf der Seitenfahrbahn an ihm vorbei. Schäfer pfiff. Er wollte aus der Kälte und dem Schneetreiben. Wozu sollte er noch bis zu dem Droschkenstand laufen?
Das Taxi, das ihn überholt hatte, hielt. Der Fahrer, ein Mann mit Schiebermütze, breit und massig, neigte sich nach hinten und öffnete den rechten Schlag. Schäfer stieg ein.
»Berggasse. Sicherheitsbüro«, sagte er.
Der Chauffeur manövrierte seinen Wagen bei der nächsten Querstraße auf den Ring hinaus und fuhr diesen entlang, in Richtung Rathaus und Burgtheater. Das Schneetreiben war so heftig, daß er sehr langsam, mit Abblendlicht, fahren mußte. Man sah kaum zehn Schritte weit.