Der Chauffeur drückte auf einen Knopf des Armaturenbretts.
Schäfer zuckte zusammen, als gleich darauf im Fond aus einem kleinen Lautsprecher an der Seitenwand eine französisch akzentuierte Stimme ertönte: »Guten Tag, Herr Inspektor Schäfer. Sie haben unseren Rat befolgt und im ›Kurier‹ ein Inserat aufgegeben, das wir Ihnen vorschrieben …«
»Was ist das?« rief Schäfer.
Der Chauffeur reagierte überhaupt nicht. Er schien taub zu sein. Konzentriert beobachtete er die Fahrbahn und antwortete nicht.
Aus dem Lautsprecher erklangen diese Worte: »Es tut uns sehr leid, daß Ihre Frau so krank ist. Sie braucht die Pflege im Sanatorium. Das wissen Sie.« Schäfer schluckte. Das Taxi kroch durch das wüste Schneetreiben an der Kreuzung Mariahilferstraße vorüber. Der Chauffeur tat, als höre er kein Wort. »Wir bieten Ihnen zweihunderttausend Schilling für eine kleine Gefälligkeit. Am Abend des sechzehnten Januar haben Sie eine Reihe von Dokumenten aus dem Hotel ›Ritz‹ zu einem Anwalt gebracht.« Schäfer ballte die Fäuste. »Das wissen wir. Wir wissen nicht, welcher Anwalt das war. Sie werden uns seine genaue Adresse mitteilen. Schreiben Sie die auf ein Stück Papier. Mit der Hand. Darunter schreiben Sie: Hunderttausend Schilling erhalten. Datum und Ihre Unterschrift. Wir beobachten Sie ständig. Bei der ersten Gelegenheit wird ein Mann Ihnen hunderttausend Schilling überreichen – keine Angst, niemand wird es sehen. Sie können das Geld nachzählen, bevor Sie dem Mann Ihre Information geben. Sobald wir uns davon überzeugt haben, daß Sie den richtigen Namen und die richtige Adresse aufgeschrieben haben, erhalten Sie die restlichen hunderttausend Schilling auf die gleiche Weise innerhalb von höchstens zehn Tagen. Sie werden auch diesen Betrag quittieren. Wir warnen Sie, uns falsche Informationen zu geben – wir haben das Papier mit Ihrer Handschrift. Es ginge dann sofort an Ihren Vorgesetzten. Das ist alles.«
Die Stimme verstummte. Der Chauffeur schaltete das Tonband ab. Er fuhr jetzt am Parlament vorüber. Ein Räumwagen ratterte heran und den Ring hinab. Inspektor Schäfer saß reglos im Fond. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie erreichten das Burgtheater. Der Chauffeur fuhr noch langsamer. Er fragte, ohne sich umzudrehen, mit erkälteter Stimme: »Also was ist?«
Starr in die weißen Wirbel blickend, die auf die Windschutzscheibe zuflogen, fragte Schäfer: »Haben Sie die erste Rate bei sich?«
Der Chauffeur schaltete den rechten Winker ein, fuhr beim Café Landtmann wieder in die rechte Seitenbahn der Ringstraße und hielt knapp vor der Schreyrgasse. Er knipste das Licht im Fond an und reichte ein Kuvert nach hinten. Schäfer riß es auf. Noten lagen darin.
»Zählen Sie nach«, sagte der Chauffeur.
Schäfer zählte. Es waren hundert Tausendschillingscheine, alte und neue. Schäfers Hände begannen plötzlich wie in einem Krampf zu zittern. Das Geld wäre fast auf den nassen, schmutzigen Wagenboden gefallen. Schäfer konnte nur denken: Ich muß es tun. Ich habe so etwas erwartet. Es trifft mich nicht unvorbereitet. Ich bringe Carla in grauenvolles Elend, noch größeres Leid, noch ärgere Qual, wenn ich es nicht tue. Carla, meine Carla …
»Was ist? Stimmt’s nicht?« fragte der Chauffeur.
»Doch …«
Daraufhin reichte der Chauffeur, ohne sich umzudrehen, ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber nach hinten.
»Neben Ihnen liegt ein großes Buch. Nehmen Sie es als Unterlage«, sagte er. »Und schreiben Sie deutlich.«
Schäfer mußte eine kurze Weile warten, bis das Zittern seiner Hände nachgelassen hatte.
Dann schrieb er:
Dr. Rudolf Stein. Kohlmarkt 11
Und darunter:
100 000 Schilling erhalten
Ulrich Schäfer
23. Januar 1969
Er reichte Papier und Kugelschreiber nach vorn. Der Chauffeur nahm beides, betrachtete kurz das Blatt und knipste die Wagenbeleuchtung ab.
»In Ordnung«, sagte er. »Steigen Sie aus.«
»Was?«
»Aussteigen. Ich fahre Sie nicht weiter. Da vorn an der Schottenring-Kreuzung finden Sie ein anderes Taxi. Na los, wird’s?«
Schäfer stieg aus.
Das Taxi, dessen Chauffeur alle Lichter ausgeschaltet hatte, fuhr los und verschwand sofort in dem dichten Schneetreiben.
Der Inspektor Schäfer stand reglos am Straßenrand. Er bemerkte, daß er immer noch den Umschlag mit dem Geld in der Hand hielt und steckte ihn ein.
»Es geschehen oft Wunder, lieber Herr Schäfer. Es kommt zu einem Stillstand der Erkrankung, ja zu partieller Besserung. Der Patient kann dann noch lange Zeit leben, sehr lange Zeit … und wer weiß, vielleicht findet man in dieser Zeit ein Mittel gegen die Krankheit. Jeden Tag werden neue Wundermittel gefunden, jeden Tag …« Die Stimme des Arztes, der mit ihm gesprochen hatte, klang in Schäfers Ohren.
Ich kann nur hoffen, sie halten Wort und geben mir die restlichen 100 000 Schilling, dachte er.
5
»Die Mädchen in der Kanzlei haben einen weiteren Teil des Aktes gefunden«, sagte der Dr. Otto Forster. »Noch immer nicht alles, aber wir bekommen schon noch alles zusammen …«
Manuel, der dem alten Mann in dessen Wohnzimmer gegenübersaß, unterdrückte ein Gähnen.
Manuel war sehr spät ins Bett gekommen und sehr früh aufgestanden. Er hatte schon um halb acht Uhr mit Cayetano und den Anwälten zusammen im Salon seines Appartements gesessen und alle Schriftstücke durchgearbeitet, welche er kennen mußte, und er war auch noch einmal in der Rechtsabteilung der argentinischen Botschaft gewesen, um dort Urkunden und Vollmachten zu unterzeichnen. Weder der Botschafter noch der kleine Gomez hatten sich sehen lassen …
Der Anwalt Dr. Otto Forster sagte: »Hier habe ich endlich die Abschrift des Stenographie-Protokolls der ersten Streitverhandlung. Am 20. März 1943 fand die statt. 10 Uhr, Justizpalast, dritter Stock, Saal 29 – das war nur ein größeres Zimmer, ich erinnere mich jetzt. Öffentliche Verhandlung. Aber niemand interessierte sich dafür. Die Zuhörerbänke standen leer. Es gab nur einen Richter und eine Stenographin. An die erinnere ich mich noch gut. Herta Bohnen hieß sie, da steht es. Und der Richter hieß Gloggnigg, Fritz Gloggnigg. Einer der wüstesten Nazis, die damals im Justizpalast saßen!«
»Aber Valerie Steinfeld erzählte einer Bekannten, mit der ich mich nun auch unterhalten habe, der Richter sei ein alter Sozialdemokrat gewesen, den Sie schon lange und gut kannten! Und dieser Kurator Kummer, der sei gleichfalls ein Antinazi gewesen. Deshalb wurde auch der Termin derart spät angesetzt. So viel Glück hätten Sie gehabt!«
Forster lachte kurz.
»Glück! Diese Bekannte – ist das Frau Hill, von der Sie mir erzählten, daß sie die Verbindung nach London hergestellt hat?«
»Ja.«
»Nun, dann hat die arme Frau Steinfeld sie tapfer angelogen, um ihren Mann nicht zu beunruhigen.« Forster lachte wieder. »Der Termin wurde so spät angesetzt, weil die Gerichte damals irrsinnig überlastet waren, aus keinem anderen Grund. Sozialdemokrat und Antinazi! Du lieber Gott! Dieser Kurator Kummer war ein Opportunist, Parteigenosse, bis 1938 Winkeladvokat, dann plötzlich erfolgreich und besser situiert – verdankte dem Dritten Reich seine Karriere! Und der Richter – dieser Doktor Glogg. nigg, das war ein richtiger Sadist. Hier! Sie müssen sich nur einmal das Protokoll anschauen …«
6
»Also Ihr Mann bevorzugte eine besondere Art des Verkehrs?«
»Ja.«
»Die Sie quälte und nicht befriedigte.«
»Ja.«
»Ich lese Ihnen nur Ihre eigene Aussage vor. Danach hat diese Art des Verkehrs mit Ihrem Ehegatten, dem Paul Israel Steinfeld, Sie schwer abgestoßen. Das steht auf Seite drei der Erklärung von Frau Steinfeld, meine Herren, oben.«
»Herr Vorsitzender …«
»Einen Moment, Herr Rechtsanwalt! Jetzt frage ich!«
»Sicherlich, aber …«
»Aber was? Das scheint mir doch einer der Angelpunkte für das Verhalten von Frau Steinfeld zu sein. Nicht wahr, Herr Doktor Kummer?«