»Was denn zum Beispiel?«
»Zum Beispiel die Heimat, Herr Direktor. Und dann Begriffe wie Glauben und Treue und Ehre und Kameradschaft …«
Ach, Heinz, Heinz, wie gut hast du dich mit Paul verstanden, früher, als Kind, als Junge, bis die Nazis kamen! Wie viele Stunden habt ihr debattiert, wie hast du ihn bewundert, wie hat er dir alles erklärt, dir immer neue Bücher gebracht, Geschichten erzählt, wie stolz warst du darauf, wenn er im Radio gesprochen hat! Und jetzt ist da nur noch Haß in dir. Furchtbar …
»Wunderbar«, flüstert der Doktor Forster. »Der Bub macht sogar auf die beiden Kerle Eindruck.«
Das tut er.
Ein erstaunlicher Junge, findet Gloggnigg, der selber einen Sohn hat. Das könnte ja direkt sein Bruder sein, wie der ausschaut, wie der spricht, die Haltung, die Würde …
»Nein, Herr Richter, ich habe nicht gewußt, daß mein Vater – dieser Mann meine ich –, daß der Jude ist. Das habe ich erst erfahren, als ich in der Schule den kleinen Ariernachweis erbringen mußte. Da hat es mir meine Mutter gesagt. Ich war sehr unglücklich, jawohl … Weil ich Juden hasse … Sie sind das größte Gift unter den Völkern … Nein, daran glaube ich fest … In der Hitlerjugend? Einer von den besten und eifrigsten war ich, das kann mein Fähnleinführer bezeugen … Der schlimmste Tag? Als ich erfuhr, daß mein Vater Jude ist natürlich … Da habe ich auch begriffen, warum wir uns nie verstanden haben …«
Weiter, Heinz, weiter, mehr so …
»Herrn Landau? Mit dem habe ich mich immer verstanden! Mit dem habe ich reden können! Das war ein guter Deutscher, ein wirklich anständiger Mensch … Der glücklichste Tag in meinem Leben? Als meine Mutter mir gesagt hat, daß Herr Landau mein Vater ist und nicht der andere … dieser Jude …«
Der Kurator Dr. Hubert Kummer, der denkt: Aus jetzt die Packelei mit dem Richter. Der soll sehen, wie er allein weiterkommt. Ich muß mich korrekt verhalten, streng korrekt. Fehlte noch, daß hier etwas schiefläuft und ich einen Rüffel bekomme, eine Rüge, einen Verweis, etwas Schlimmeres. Wo ich endlich die große Kanzlei und die Wohnung von diesem Dr. Blaustein, der in meinem Bezirk alles an sich gerissen hatte, endgültig überschrieben erhielt. Nach der Arisierung haben mich die Kollegen, die lieben, immer wieder angegriffen deshalb, und es hat vier Jahre gedauert, bis ich mir alles aufgebaut habe. Vorsichtig also jetzt. Ist ja ein prächtiger Junge. Muß man anständig behandeln. Auch gegen die Mutter muß ich höflich sein. Da habe ich mich hinreißen lassen. Und wenn sie lügt! Und wenn das da ein Halbjud ist! Aber hat er Glück, und die Untersuchungen fallen günstig für ihn aus? Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten.
»Sie hassen also Ihren Vater, Herr Steinfeld?«
»Meinen sogenannten Vater! Jawohl, den hasse ich, Herr Direktor. Mehr als alles andere auf der Welt hasse ich ihn!«
Ja, gut so, Heinz, gut so, weiter so. O Gott …
»Wenn ich hören würde, daß er tot ist? Überhaupt nichts würde ich empfinden! Er ist doch nicht mein Vater! Herr Landau ist doch mein Vater!« Wie düster dieser Landau mich anstarrt, denkt der Kurator Kummer unruhig. Der brütet auf Rache. Ich muß da sofort etwas tun.
»Herr Vorsitzender, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf … Wir haben nun alle Beteiligten vor uns … den Paul Israel Steinfeld nur in Form von Fotos … Aber die Fotos zeigen nach meinem Dafürhalten zahlreiche unverkennbare Eigenarten der jüdischen Rasse. Der junge Mann da, Herr Vorsitzender, scheint mir von diesen Eigenarten absolut frei zu sein. Absolut … Ich möchte unter diesen Umständen den Antrag stellen, erbbiologische und anthropologische Sachverständige herbeizuziehen und …«
»Diese Entscheidung treffe immer noch ich, Herr Doktor, nicht wahr? Ich leite die Verhandlung.«
Rechtsanwalt im Dritten Reich! Ein feiner Beruf! Wenn sie einem wenigstens immer genau sagen würden, wie sie es gern haben wollen, was für einem Recht man das Wort reden soll …
»Ich wollte wirklich nicht vorgreifen, Herr Vorsitzender, aber ich denke doch, ich werde den Antrag stellen …«
Jetzt lächelt mich diese Steinfeld zum erstenmal an. Zurücklächeln, los! Was lächeln die so? denkt der Landgerichtsdirektor Gloggnigg. Weiß der Kummer, dieser Scheißer, vielleicht mehr als ich? Ist der schon sicher, wie die Untersuchungen ausgehen werden? Dann wäre ich der Blamierte, wenn ich hier weiter herumbrülle. Das ist natürlich eine einzige Komödie, die man mir hier vorspielt, aber der Junge sieht wirklich arisch aus, und wenn nun auch noch die Blutgruppen stimmen …
»Herr Steinfeld, bitte nehmen Sie Platz.«
»Jawohl, Herr Direktor.« Die Hacken klappt er zusammen, der Junge, zur Zeugenbank marschiert er. Ernst sieht er dabei seine Mutter an. Und die denkt: ›Bitte‹ hat das Vieh gesagt, Paul, ›bitte‹! Zu unserem Buben! ›Bitte nehmen Sie Platz!‹ Paul, Paul, halt uns die Daumen jetzt, geliebter Paul …
9
»… also das war die Hölle, Herr Direktor, die reinste Hölle, ich schwör es Ihnen! Krach bei Tag und Krach bei Nacht, wenn er zu Hause war, der Herr Steinfeld! Er ist nämlich oft wochenlang weggeblieben, auch wenn er nicht verreist gewesen ist … Andere Frauen hat der gehabt, immer andere Frauen, das kann ich beschwören!«
Die Agnes trägt ihr feinstes schwarzes Kleid, einen Kapotthut auf dem Haar, den Mantel hat sie ausgezogen, sie ist hochgradig erregt, munter, sie möchte am liebsten andauernd reden.
»Warum sind Sie denn in einem solchen Haushalt geblieben, Zeugin?«
»No, wegen der guten gnä’ Frau und wegen dem Heinzi, dem Kleinen. Die haben mich doch gebraucht. Haben doch sonst niemanden gehabt als mich und den lieben Herrn Landau. Wenn wir nicht gewesen wären, meiner Seel, ich glaub, das Leben hätt die gnä’ Frau sich genommen vor Gram, so verzweifelt war die manchmal, das kann ich beschwören, Herr Direktor.«
»Wußten Sie, daß es eine intime Beziehung zwischen Frau Steinfeld und Herrn Landau gab?«
»Ja, das kann ich auch beschwören!«
»Hören Sie endlich mit diesem ewigen Beschwören auf. Was soll denn das? Beantworten Sie meine Frage!«
»Ich sag doch, ich kann es beschwören …«
»Zeugin Peintinger!«
»… weil es mir die gnä’ Frau anvertraut hat in ihrer Verzweiflung …«
»Wann hat sie sich Ihnen anvertraut, Zeugin?«
»Gleich nach der Geburt, wie der Herr Steinfeld angefangen hat, sie zu beschimpfen, daß es nicht sein Bub ist und daß sie was hat mit dem Herrn Landau. Also, meine Herren, ich schwöre Ihnen, damals hat die gnä’ Frau es mir gesagt!«
Ich lasse mich doch nicht hochnehmen von dieser Gesellschaft, denkt Doktor Gloggnigg und poltert los: »Schon wieder wollen Sie schwören, Zeugin!«
»Ja, Herr Direktor! Entschuldigen bitte … aber ich will wirklich …«
»Aha. Und weshalb?«
»No, damit Sie mir glauben, Herr Direktor! Es ist doch wichtig, daß Sie mir glauben! Ich erzähl Ihnen von den ganzen Krachs und Zerwürfnissen und wie froh die gnä’ Frau war, daß das Dritte Reich gekommen ist und der Herr Steinfeld hat flüchten müssen … Mich hat er auch immer behandelt wie den letzten Dreck. Arbeiter und Angestellte, die waren einfach Dreck für ihn, kein soziales Gefühl, verstehen Sie, Herr Direktor, Herr Rechtsanwalt? Ich schwör Ihnen, jüdisch, echt jüdisch …«
»Zeugin Peintinger!«
»… während der Herr Landau … so lieb und gut … ein wirklicher Herr … und immer freundlich! Und wie hat der Bub ihn gern gehabt, schon als ganz kleines Kind … und die gnä’ Frau, wie hat sie sich immer gefreut, wenn der Herr Landau gekommen ist, und er ist oft gekommen, der einzige Trost in ihrer unglücklichen Ehe war er für die gnä’ Frau, das schwöre ich gerne …«
»Fräulein Peintinger, ich …«
»Sie lassen mich schwören, ja?«
»Nein«, sagt Gloggnigg langsam.
»Was?«
»Ich lasse Sie nicht schwören.«