»Warum mußte sie auch so übertreiben?« flüstert Forster Valerie ins Ohr. »Was ist los mit ihr?«
Valerie flüstert: »Ihr Pfarrer, Sie wissen doch …«
Forster nickt.
»Na ja, und jetzt will sie eben unbedingt!»
»Unangenehm. Sehr unangenehm. Und als nächste diese Lippowski … Nicht, gnädige Frau, bleiben Sie ruhig! Alles wird gutgehen. Ich sehe doch, daß der Kummer schon kalte Füße hat. Der stellt bestimmt seine Anträge, und wir sind einen Riesenschritt weiter …«
Indessen haben sich die Agnes und Richter Gloggnigg unterhalten, gereizt, alle beide.
»Aber ich verstehe nicht, warum Sie mich nicht vereidigen wollen, Herr Direktor! Nur so können Sie doch sicher sein, daß ich wirklich die Wahrheit sag! Und die Wahrheit müssen Sie doch kennen, nicht?«
»Ja, die muß ich kennen! Aber die erfahre ich nicht, wenn ich Sie vereidige! Sie sind doch imstande und schwören einen Meineid!«
»Ich einen Meineid? Niemals! Warum sollte ich …«
»Um Ihrer lieben gnädigen Frau zu helfen und dem lieben Heinzi.« Es ist stärker als der Landgerichtsdirektor Gloggnigg, heiße Wut flackert in ihm hoch. »Das ist doch alles abgesprochen und ausgedacht und ausgetüftelt und Theater!«
»Wenn ich mir gestatten dürfte, Herr Vorsitzender …«
»Unterbrechen Sie mich nicht, Herr Doktor Kummer!«
»Verzeihung …«
»Ich sehe doch, ob einer lügt oder nicht! Und hier wird nur gelogen! Nur!«
»Herr Direktor, das verbitte ich mir! Ich als Parteigenosse …«
Martin Landau ist aufgesprungen.
Gloggnigg winkt ab.
»Sie meine ich nicht …«
»Wen denn, Herr Direktor?«
Jetzt ist Forster aufgesprungen.
»Sie wissen genau, wen, Herr Rechtsanwalt! Treiben Sie es nicht zu weit! Ich warne Sie! Es ist in ganz Wien bekannt, daß gerade Sie es auf das peinlichste vermeiden sollten, derartige Lügenprozesse zu führen!«
»Herr Vorsitzender!« ruft Forster. »Das ist eine unglaubliche Äußerung! Ich werde mich beim Herrn Präsidenten beschweren!«
»Beschweren Sie sich meinetwegen! Weit werden Sie nicht kommen. Himmeldonnerwetter noch einmal, ich will doch da sehen …«
»Aber zum Schluß darf ich schwören, ja?« ruft die Agnes.
»Gar nichts dürfen Sie!«
»Doch! Ich will! Ich muß! Sie werden mir die Worte vorsprechen, Herr Direktor, und ich …«
Gloggnigg gerät außer sich: »Nein! Nein! Nein! Eine Zeugin wie Sie vereidige ich nicht, haben Sie verstanden?«
»Herr Vorsitzender, ich gebe zu bedenken …«
»Herr Doktor Kummer, bitte!«
»Pardon!«
»Schwören … beschwören …«
»Zeugin, nehmen Sie sich gefälligst zusammen!«
Tja, das ist leicht gesagt! Wo der Geistliche Herr der Agnes doch das Lügen erlaubt hat! Nach all den Alpträumen, den Bedenken, der Angst besitzt sie die Erlaubnis zu lügen, und nun will man sie nicht lügen lassen – nein, das ist zu ungerecht!
Die Agnes beruhigt sich nur langsam. Sie sagt weiter aus. Und lügt und lügt und lügt und hofft, daß der Richter ein Herz haben und sie ihre Lügen doch noch beschwören lassen wird.
Aber der denkt nicht daran.
Die Zeugin Agnes Peintinger bleibt unvereidigt.
10
Alle sind dunkel gekleidet, auch die dicke Hermine Lippowski, die nun vor dem Richtertisch steht, das strähnige Haar schlecht frisiert, schlecht die runzeligen Wangen gepudert, zu viel Rouge aufgelegt, mit schwarzen Ringen unter den Augen, gebeugt, mühselig atmend, ein Wrack, sechzig ist sie noch nicht, man hält sie für mindestens siebzig.
Hermine Lippowski hat niemanden angesehen, als sie hereinkam, und nun sieht sie nur den Richter Gloggnigg an, nur ihn, und auch ihn nicht immer. Pfeifend kommt ihr Atem. Ganz still ist es geworden im Saal. Die Personalien sind verlesen, die Zeugin ist über die Bedeutung des Eides aufgeklärt worden, Valerie und Forster und Martin Landau durchbohren ihren Rücken mit Blicken, denn diese Zeugin wird nun alles wieder kaputtschlagen, was bisher erreicht worden ist, diese Hexe, diese verfluchte! »Frau Lippowski, die Eheleute Steinfeld haben bei Ihnen gewohnt«, beginnt der Richter.
»Haben sie, ja«, sagt das schwarze Ungeheuer.
»Von wann bis wann?«
»Von November 1923 bis Oktober 1928.«
»Sie erinnern sich noch gut an Ihre Mieter?«
»Ich erinnere mich noch gut an sie, ja.« Valeries Hände ballen sich wieder zu Fäusten, ihre Lippen verfärben sich wieder, Forster sieht es mit Sorge.
»An die beiden und an das Baby, das dann kam, und an das Fräulein Peintinger … an alle erinnere ich mich … so lange ist das schon her …. hier sieht man sich wieder …« Keuchendes Atemholen. »Ich bin ja nur froh, daß ich jetzt vielleicht wenigstens noch helfen kann.«
Valerie zuckt zusammen, sie sieht Forster an. Der schließt und öffnet schnell die Augen. Ruhig jetzt, ganz ruhig.
»Helfen? Wie meinen Sie das, Zeugin? Wie helfen? Wem?«
»Der armen Frau Steinfeld«, sagt das Ungeheuer, ohne den Kopf zu wenden, das Haar steht schon wieder vom Kopf ab, der Atem geht rasselnd. »Es dreht sich doch um ihren Mann, nicht wahr?«
»Ja. Und um den Sohn.«
Die Lippowski nickt grimmig.
»Und um den Sohn. Was hat die Frau Steinfeld mitmachen müssen wegen dem Heinzi! Er soll jetzt auch hören, was ich zu sagen habe, über seinen Vater, diesen Lumpen, diesen elenden.«
Danach ist es wieder still im Raum, so still, daß man die Lippowski laut keuchen hört. Noch jemand atmet hastig und schnell. Forster berührt Valeries Arm.
»Elenden Lumpen?« fragt Richter Gloggnigg.
»Sie haben mich schon richtig verstanden, Herr Direktor«, pfeift die dicke Alte. »Das war ein ganz bösartiger, aalglatter Herumtreiber, der seine Frau bloß gequält und gepeinigt hat. Hör es, Heinzi! Das Fräulein Peintinger wird es ja auch schon gesagt haben, und du weißt ja auch sicherlich längst, daß er nicht wirklich dein Vater war, sondern daß der Herr Landau dein Vater ist, gelt?«
»Ja«, sagt Heinz.
Es klingt so laut, daß wieder alle zusammenfahren.
»Sprechen Sie zu mir, Zeugin! Nicht sein Vater? Der Herr Landau sein Vater? Woher wollen Sie das denn wissen?«
»Die arme Frau Steinfeld hat sich mir anvertraut in ihrer Not, als er noch ganz klein war, der Heinzi, und als er es so toll getrieben hat, ihr Mann, mit anderen Weibern! Und ihr hat er Vorwürfe gemacht und sie beschimpft, ich habe es doch gehört durch die Decke, in meine Wohnung hinunter, ununterbrochen Krach, ununterbrochen das Gebrüll von dem Mann und das Weinen von der unglücklichen Frau.« Die Haut ihres Gesichtes nimmt den Puder nicht an, unausgeschlafen, ungepflegt, scheußlich sieht sie aus, aber Valerie, Forster, die Agnes und Martin Landau, sie alle haben Mühe, ruhig sitzen zu bleiben und nicht nach vorne zu stürzen und sie zu umarmen und zu küssen und zu streicheln, diese Hermine Lippowski, die nun einem stirnrunzelnden Richter Gloggnigg berichtet, was für ein Teufel der Paul Israel Steinfeld gewesen ist, und wie sie Valerie Steinfeld und Martin Landau sozusagen richtig zusammengebracht hat mit Andeutungen und Reden und indem sie beide Augen zudrückte, als er dann immer kam, wenn Paul Steinfeld fort war, besonders damals, im Sommer 1925, als es passiert sein muß, daß Martin Landau die Frau Steinfeld geschwängert hat, der Mann war doch verreist, monatelang, mit zwei, drei ganz kurzen Besuchen dazwischen.
»Zeugin Lippowski, was Sie da sagen, das können Sie auf Ihren Eid nehmen?«
»Selbstverständlich, Herr Direktor.«
Und alle stehen auf, und Gloggnigg spricht die Formel, und Hermine Lippowski, die Valerie vor wenigen Monaten ins Gesicht geschrien hat, daß sie nicht den kleinen Finger für sie krumm machen würde, wiederholt die letzten Worte des Richters: »Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!« Danach, entlassen, setzt sie sich an das äußerste Ende der Zeugenbank, so weit wie möglich entfernt von den anderen. Ihre Hände hängen herab, zusammengesackt sitzt sie da, mit tragischem Gesichtsausdruck starrt sie auf den Boden.