Und die Zeugen neben ihr, Forster, Valerie, sehen sie an, kurz, scheu, erschrocken.
Was ist mit dieser Frau geschehen?
Was?
Richter Gloggnigg wühlt, plötzlich von Sodbrennen und Gereiztheit befallen, in den vielen Papieren, die vor ihm liegen.
»Unvollständig … die Ahnentafeln sind ja noch absolut unvollständig«, knurrt er.
»Wir haben die Dokumente noch nicht erhalten, Herr Vorsitzender.«
Forster steht auf. »Sie werden nachgereicht, sobald sie in unseren Händen sind.«
»Wenn wir sie dann noch brauchen«, knurrt Gloggnigg.
Es klopft.
»Herein!« ruft der Richter böse. Diese Sache läuft nicht so, wie er es sich dachte. Gar nicht so …
Die Tür öffnet sich. Da steht, groß und kräftig, in einem Frühjahrsmantel mit Pelzkragen, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, dunkeläugig, schmallippig, ein Taschentuch an die rechte, geschwollene Wange gepreßt, Ottilie Landau.
»Tilly!« ruft ihr Bruder. Er springt auf.
»Setz dich«, sagt sie. Und laut und etwas undeutlich zu Gloggnigg: »Ich bin Frau Landau. Ich habe eine Vorladung zu diesem Abstammungsprozeß erhalten. Ein Gerichtsdiener draußen hat mir gesagt, ich soll nicht lange warten, sondern mich gleich melden.«
Der Kurator Kummer glotzt.
Valerie starrt Tilly an.
Alle starren Tilly an, nur Hermine Lippowski nicht. Die nimmt überhaupt keine Notiz mehr von dem, was um sie her vorgeht.
»Aber Sie haben doch eine ärztliche Entschuldigung geschickt.« Selbst Gloggnigg ist um seine Überheblichkeit gebracht. »Sie sind doch krank. Sie konnten doch angeblich nicht kommen.«
»Es fiel mir sehr schwer, Herr Richter«, erklärt Tilly. »Ich hatte noch große Schmerzen heute morgen. Aber dann schluckte ich Pulver, und es wurde besser. Ich sagte mir, daß ich herkommen müsse.« Sie blickt ihren Bruder an, der erschauert. »Es ist eine zu wichtige Angelegenheit. Ich muß da meine Aussage machen.«
»Verflucht noch mal!« flüstert Forster.
Valerie sieht Tilly Landau mit schreckgeweiteten Augen an.
Aus, denkt sie. Alles aus. Diese Tilly ist eine Fanatikerin. Die erzählt jetzt die ganze Wahrheit und beschwört sie auch noch …
11
»Das ist auch wirklich die Wahrheit, Frau Landau?« fragt Richter Gloggnigg.
»Ich kann nichts anderes sagen, Herr Direktor. So war es.« Tilly Landau steht hoch und aufrecht vor dem Richtertisch, das Taschentuch immer an die Wange gepreßt.
»Ihr Bruder hat …«
»Mir alles gebeichtet, jawohl.«
»Wann? Sagen Sie es noch einmal!«
»Im Frühherbst 1925, als positiv feststand, daß Frau Steinfeld schwanger war. Da ist er zu mir gekommen und hat gesagt, er sei ihr Geliebter, schon lange, und nun sei er auch der Vater ihres ungeborenen Kindes.«
»Und Sie, was haben Sie gesagt?« Gloggnigg ist schwer verärgert.
»Ich war entsetzt!« behauptet Tilly Landau. »Einmal überhaupt – ich habe vielleicht etwas altmodische Moralbegriffe. Und ich konnte Valerie Steinfeld nie leiden.«
»Und trotzdem kommen Sie heute hierher, obwohl Sie krank sind, und sagen für sie aus – in ihrem Sinn?«
»Nicht für sie, Herr Richter! Für meinen Bruder! Ich will nicht, daß Sie ihn für einen Lügner halten. Das ist er nicht. Er ist unfähig zu lügen. Aber er ist ein wenig weltfremd, ängstlich …«
»Na, den Eindruck hatten wir hier gerade nicht, Frau Landau!«
»Nein? Es ist aber so, Herr Richter. Ich kenne meinen Bruder wahrhaftig … ja, richtig, natürlich!«
»Wie bitte?«
»Ich kann mir schon denken, warum er sich zusammengenommen hat und hier so forsch aufgetreten ist, wie er nur kann!«
»Warum?«
»Hat er nicht gesagt, daß er unbedingt als Vater des Buben anerkannt werden will bei dieser Gelegenheit?«
»Ja, allerdings, das hat er …«
»Sehen Sie! Davon hat er mir doch auch vorgefaselt die ganzen Jahre hindurch, immer wieder, immer wieder … Sein größter Wunsch war das!«
»Frau Landau – und Sie sind bereit, Ihre Aussage vollinhaltlich zu beeiden?«
»Selbstverständlich, Herr Richter. Das kann ich alles beschwören.«
12
»… in Würdigung der Sachlage und der Aussagen der obgenannten Zeugen sowie über den ausdrücklichen Antrag des Kurators Doktor Hubert Kummer verfügt das Gericht über die Zulassung des Beweises … kommen Sie mit, Fräulein?« fragt Gloggnigg, der rasch und böse diktiert hat. »… Zulassung des Beweises«, wiederholt das gelangweilte, stumpfsinnige Wesen an der Schmalseite seines Tisches, die Stenographin Herta Bohnen, sich mit einer Hand den Nacken kratzend.
»… den auch der Klagevertreter Doktor Otto Forster verlangte …« Ich darf mich nicht einfach über all diese Aussagen hinwegsetzen, denkt Gloggnigg. Sonst bekomme ich Ärger mit dem Präsidenten.
»… erstens: über die rassische Einordnung und über die Frage, ob und inwieweit es ausgeschlossen werden kann, daß der Kläger Heinz Steinfeld von Paul Israel Steinfeld gezeugt wurde, indem eine anthropologisch-erbbiologische Untersuchung durchgeführt wird …«
Valerie sieht Forster an. Der lächelt und nickt und zupft an seinem Ohr. »… zweitens: durch eine Blutgruppenuntersuchung darüber, ob eine Zeugung des Klägers durch Martin Landau eindeutig auszuschließen – haben Sie, Fräulein?«
»Eindeutig auszuschließen«, sagt die gelangweilte Stenographin.
»… auszuschließen ist. Punkt. Absatz.« (Gegen so viele beeidete positive Aussagen kann ich nichts machen. Jetzt ist mir auch noch der Scheißer, dieser Kummer in den Rücken gefallen. Gibt welche, die nennen mich einen Bluthund. Ich muß achtgeben. Bin zur Beförderung vorgesehen. In Berlin schätzt man mich sehr. Immer korrekt jetzt. Ich werde einen ganz scharfen Sachverständigen nehmen. Dann sind die Herrschaften sowieso erledigt. Und mir kann keiner etwas nachsagen.) »Zum Sachverständigen zu Punkt eins wird SS-Sturmbannführer Privatdozent Doktor Kratochwil vom Anthropologischen Institut der Universität Wien …«
(Das ist der Schärfste! Die werden sich wundern!) »… zu Punkt zwei ein Arzt des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Wien, Vorstand Professor Doktor Schmalenacker, bestellt …«
13
Die Sonne schien hell, Menschen hasteten an der kleinen Gruppe vorüber, die den Justizpalast verließ. Straßenbahnen sausten klingelnd über die Museumstraße, Radfahrer, Wehrmachtsautos.
»Ich bin ja so glücklich! So glücklich! Das ist doch prima gegangen, Mami, nicht?« Heinz Steinfeld zog die Krawatte herab und öffnete den Kragen, der ihn lange genug gequält hatte. »Jetzt noch die Untersuchungen, und dann …«
»Nicht hier«, sagte Forster schnell. »Kommen Sie.« Damit ging er bereits eilig auf einen nahen kleinen und noch ziemlich kahlen Park zu, der sich neben dem Justizpalast, gegenüber dem Auerspergpalais befand. Valerie und Martin Landau sahen sich plötzlich mit der schwarz gekleideten Hermine Lippowski allein.
»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, sagte Valerie.
»Und auch ich«, sagte Landau, noch übererregt von der Verhandlung.
»Sie müssen mir nicht danken«, antwortete die Lippowski, mühsam Atem holend, stockend. »Ich habe eine Nachricht bekommen. Gestern. Durch Freunde. Aus dem KZ Sachsenhausen …«
»Mein Gott – Ihr Mann?« fragte Valerie.
»Mein Mann, ja«, sagte das fette Ungeheuer und starrte Valerie aus verschwollenen Augen an. »Tot. Ermordet haben sie ihn, diese Bestien. Meinen Mann. Ich habe einen einzigen Menschen im Leben geliebt – ihn! Auch noch, als er mich verlassen hat … heute noch … immer werde ich ihn lieben … immer weiter! Es ist mir klargeworden wie in einem Blitzstrahl gestern. Deshalb habe ich für Sie und Ihren Mann und Ihren Sohn falsch geschworen, Frau Steinfeld. Sie haben Glück gehabt durch mein Unglück …« Damit nickte Hermine Lippowski noch einmal kurz und verloren mit dem schrecklichen Kopf und schlurfte dann davon, grußlos, ohne sich umzudrehen, eingesponnen in das Gewebe ihres großen Schmerzes.