Also fuhr er in die Berggasse (und Clairon fuhr in dem Kapitän hinter ihm her), und die Beamten in der Berggasse erklärten, sie würden die Papiere bis zum nächsten Tag fertigstellen.
»Viertel eins. Seit zwölf kein Parteienverkehr mehr. Und nachmittags ist zu bei uns.«
Manuel regte sich auf. Er erhielt einen Verweis. Er verlor die Nerven und begann zu schreien, wobei er Mühe hatte, nicht zu weinen.
»Sie, also geschrien wird bei uns nicht, verstanden?«
Manuel wandte sich von dem Beamten ab und eilte zu Hofrat Groll. Der empfing ihn sofort. In seinem Vorzimmer saßen jetzt drei Sekretärinnen an Schreibmaschinen.
Groll war freundlich und ruhig wie immer. Er telefonierte.
»In zwanzig Minuten haben Sie alle Papiere«, sagte er danach.
»Ich danke Ihnen. Dann bin ich wenigstens morgen soweit. Die Sachen meines Vaters bekomme ich auch. Die will ich noch einmal ansehen. Ich kann sie ja mit dem Wagen abholen, den ich gemietet habe.«
Na also, dachte Groll. Genau, wie ich mir das vorstellte. Nur gut, daß ich schon mit Hanseder telefoniert habe, und daß Hanseder zu den Vernünftigen gehört. Der Ministerialrat Franz Hanseder, leitender Beamter der Staatspolizei, war ein alter Freund Grolls. Er hatte sich den Bitten und Bedenken des Hofrats gegenüber verständnisvoll gezeigt.
Obwohl er die Antwort kannte, fragte Grolclass="underline" »Wozu brauchen Sie einen Wagen in Wien?«
Manuel sagte: »Sie haben mir erklärt, daß der Fall für Sie abgeschlossen ist, Herr Hofrat.«
»Und ich habe Ihnen auch erklärt, warum. Wenn, wie hier, außer Zweifel steht, wer in einem Mordfall der Mörder war, und wenn dieser Mörder nach der Tat Selbstmord begangen hat …«
»… findet nach Paragraph 224 des österreichischen Strafgesetzbuchs keine weitere Untersuchung statt«, unterbrach Manuel schnell.
»So schreibt das Gesetz es vor.«
»Und warum der Mord geschehen ist, das interessiert nicht! Der Fall ist abgeschlossen.«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, daß wir nach dem Gesetz keine Berechtigung haben …«
»Ich werde in Wien bleiben, bis ich weiß, warum diese Frau meinen Vater getötet hat!« schrie Manuel plötzlich los. »Und ich werde mich von niemanden behindern lassen! Es gibt hier eine argentinische Botschaft. Wenn Sie mir Schwierigkeiten machen, werde ich mich an die wenden!«
Groll sah ihn an. Der junge Mann war dunkelrot im Gesicht. Der ›Rote Zorn‹, dachte Groll. Ohne daß es ihm überhaupt noch bewußt wurde, registrierte er dieses Symptom immer wieder bei seinen freiwilligen oder unfreiwilligen Besuchern. Und ohne daß es ihm überhaupt noch bewußt wurde, erinnerte er sich jedesmal an die uralten Mechanismen des Farbenwechsels im Zustand der Wut, wie sie dem Menschen von seinen Ahnen aus grauer Vorzeit überkommen sind.
Der ›Rote Zorn‹ ist nicht der gefährlichste, dachte der Hofrat. Ruhig sagte er: »Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen.«
»Warum betonen Sie das ich? Wer denn?« Manuels Stimme bebte. »Wer denn, Herr Hofrat?«
Groll dachte: Wenigstens versuchen muß ich es noch einmal. Er sagte, ohne Manuel anzusehen: »Fliegen Sie nach Hause, lieber Herr Aranda. Bringen Sie Ihren toten Vater in die Heimat und versuchen Sie, das Schreckliche, das geschehen ist, zu überwinden und zu vergessen.«
»Ich soll vergessen, daß man meinen Vater ermordet hat?«
»Ich habe es nicht so gemeint«, murmelte Groll. »Ich habe gemeint, vergessen Sie, daß hier etwas Unbegreifliches geschehen ist …«
Das ist ja jämmerlich, dachte er. Na also, und da wäre das zweite Symptom, das zweite Warnzeichen, ich habe darauf gewartet! Der junge Mann ist plötzlich kreidebleich geworden. Jetzt kann er jeden Moment explodieren!
Der ›Weiße Zorn‹ ist seit Urzeiten der gefährlichere. Keine Veränderung seit damals, dachte Groll. Und dabei unser aller Hybris, weil wir meinen, durch einzelne erlernte technische Fähigkeiten und Fertigkeiten eine Weiterentwicklung vollbracht zu haben. Weiterentwicklung, großer Gott, dachte Groll.
Aranda flüsterte (jetzt flüsterte er): »Das verlangen Sie wirklich von mir? Herr Hofrat! Sie wissen etwas, und Sie sagen es mir nicht! Was ist es? Reden Sie! Sehen Sie mich an!«
Gut, dachte Groll, du sollst es wissen. Hanseder hat es mir erlaubt, es zu sagen. Und so weit, wie es mit dir schon ist, mußt du es wissen, armer Kerl, und zwar schnell – in deinem Zustand. Groll sagte: »Sie bringen sich in Gefahr, wenn Sie selber Nachforschungen anstellen, Herr Aranda.« Kalkweiß, dachte er. Also rapider Gegenschlag! »Auch für uns ist der Tod ihres Vaters zuerst ein Geheimnis gewesen.«
»Und jetzt?«
(Wie er die Fäuste ballt. Auch die sind kalkweiß, die Knöchel treten stark hervor. Was hat sich geändert seit Jahrmillionen? Nichts.)
»Jetzt«, sagte Groll, »wissen wir zumindest eines: Mächte waren an Ihrem Vater interessiert – Mächte, die in unserem Land ihre Fehden austragen.«
»Sie meinen … Spionage? Aber das ist doch lächerlich!«
»Das ist gar nicht lächerlich. Vertreter mehrerer Nationen standen mit Ihrem Vater in Kontakt«, sagte der Hofrat laut.
»Sie glauben, daß mein Vater in eine Geheimdienstgeschichte verwickelt war?« Auf einmal sprach Manuel wieder ganz ruhig.
»Ja.«
»Aber das ist doch absurd! Mein Vater war ein normaler Chemiker und Biologe!«
»Ja«, sagte Groll.
»Ein normaler Geschäftsmann!«
»Ja«, sagte Groll.
»Ein Wissenschaftler, der sich mit der harmlosesten Sache von der Welt beschäftigte! Mit Pflanzenschutzmitteln! Mit Schädlingsbekämpfungsmitteln!«
»Ja«, sagte Groll.
»Warum sagen Sie immer ja?«
»Weil ich Ihnen recht gebe«, antwortete Groll, holte ein langes, flaches Lederetui hervor und entnahm ihm eine Virginier, die er umständlich präparierte und ansteckte.
Manuel Aranda setzte sich, wie zu Tode erschöpft. Er sagte leise: »Es ist Ihnen doch klar, daß ich nach dem, was Sie mir eben eröffnet haben, unter gar keinen Umständen heimfliegen werde!«
»Unter gar keinen Umständen.« Groll nickte und blies eine blaue Rauchwolke aus. »Ich habe es Ihnen nur eröffnet, weil ich sah, daß Sie auch so unter gar keinen Umständen heimgeflogen wären, daß Sie auf jeden Fall Nachforschungen anstellen würden. Nun sind Sie gewarnt, wenigstens gewarnt.« Man kann den Jungen nicht einfach in den Tod schicken, dachte Groll. Das habe ich auch Hanseder gesagt. Manuel Aranda muß wissen, worauf er sich einläßt, was ihn erwartet.
»Herr Hofrat«, sagte Manuel, unruhig atmend, »welche Macht, welcher Geheimdienst, welche Organisation kann Interesse daran gehabt haben, meinen Vater umzubringen? Sagen Sie es mir, ich bitte Sie! Ich flehe Sie an!«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Groll und dachte: Hier ist Schluß. Ich habe Hanseder versprochen, daß hier Schluß ist.
»Sie wissen etwas! Sie wissen etwas!«
»Nein, Herr Aranda.«
»Was kann mein Vater denn getan haben, was kann er gewußt haben, daß er umgebracht wurde?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Groll und dachte: Eine halbe Lüge. Ich weiß es wirklich nicht. Nicht genau.
»Ich glaube, daß Sie mich belügen! Ich glaube, daß Sie viel mehr wissen, als Sie mir sagen! Ich glaube …« Manuel brach ab. »Verzeihen Sie«, sagte er und senkte den Kopf. »Ich bin vollkommen durcheinander. Überreizt. Ungerecht. Bitte, verzeihen Sie. Natürlich würden Sie mir alles sagen, wenn Sie mehr wüßten.«
»Natürlich«, antwortete Groll mit unbewegtem Gesicht. Manchmal, dachte er, gibt es Situationen, da hasse ich meinen Beruf.
»Aber daß diese alte Frau Steinfeld es getan hat … Sie kann doch nicht im Auftrag eines … oder doch? Oder doch?«