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»Und daß alles gutgeht!«

»Bestimmt geht alles gut. Die nächsten Weihnachten feiern wir richtig. Da kommst du zu mir, oder vielleicht komme ich zu euch. Da ist dann längst alles vorbei und der Prozeß zu Ende, und ich bin Arier, und dein Vater wird nicht mehr böse auf mich sein!«

Diese Worte wurden gegen 19 Uhr 15 am 20. Dezember 1942 geflüstert, ja, geflüstert, von Mund zu Mund. So dicht standen Bianca und Heinz unter den Arkaden der uralten Minoritenkirche. Hier, in fast völliger Finsternis, durch keinen Menschen gestört, trafen Bianca und Heinz einander seit mehr als einem Monat dreimal wöchentlich, stets um dieselbe Zeit.

Zwei Zufälle waren ihnen zu Hilfe gekommen.

Heinz Steinfeld war als Rollenpendler vom Sechsten in den Neunten und Ersten Bezirk versetzt worden. Die Kinos im Sechsten Bezirk gehörten der gleichen Verleihkette an wie jene, in denen er nun arbeitete. Eine reine Austauschmaßnahme hatte das für seine Arbeitgeber bedeutet – für ihn das Glück! Denn Bianca war, wohl als Ermunterung und Lohn für scheinbar so einwandfreies Betragen, aber auch, damit man sie noch mehr unter Kontrolle hatte, von der Leiterin ihrer BDM-Gruppe zu einem Schulungskurs für Mädelscharführerinnen geschickt worden. Mädelschaftsführerin war sie schon gewesen, als man sie degradierte. Nun sollte sie plötzlich noch weiter befördert werden. Drei Monate dauerte der Lehrgang. (Biancas Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen. Der Gauredner Egmont Heizler tat alles, um die Schmach zu tilgen, die seine Tochter ihm angetan hatte.) Die Abende fanden in einem alten Palais an der Herrengasse nahe der Freyung statt. Bianca konnte bei den schlechten Verkehrsverhältnissen immer wenigstens zehn Minuten erübrigen, um in die finsteren Arkaden der Minoritenkirche zu eilen, Heinz die Fahrt von einem Kino im Ersten zu einem Kino im nahen Neunten Bezirk, gerade bevor Biancas Schulungskurs begann, für dieselbe Zeit unterbrechen. Er fuhr vorher und nachher nur um so schneller. Das alte Rad mit den grauen Schachteln der Filmrollen, die er transportierte, begleitete ihn stets in die Finsternis der Arkaden.

Bis es zu diesem wundervollen Zusammentreffen von Umständen gekommen war, hatte Biancas beste Freundin, der sie vertrauen konnte, Heinz regelmäßig an einer bestimmten Stelle im Sechsten Bezirk zu bestimmter Zeit einen Brief Biancas übergeben, und er wiederum hatte der Freundin einen für Bianca bestimmten Brief in die Hand gedrückt. Jeden zweiten Tag traf er mit der Freundin zusammen, eine Menge Briefe wurden geschrieben, voll Liebe und mit Rührung, Herzklopfen und Angst wurden sie gelesen und danach stets sofort vernichtet. Nur kurze Zeit war die persönliche Verbindung abgerissen gewesen. Nun bestand sie wieder, enger denn je zuvor.

Diese Minuten, die Bianca und Heinz dreimal wöchentlich unter jenen Arkaden verbrachten, in Dunkelheit, Kälte, oft in Regen, waren für sie die schönsten und kostbarsten. Sie flüsterten sich Treueschwüre und Liebesbeteuerungen ins Ohr, sie umarmten, küßten und streichelten einander.

»Hier ist mein Geschenk für dich«, flüsterte Heinz und reichte Bianca ein kleines Päckchen.

»Und hier das meine …« Sie gab ihm ein größeres Päckchen.

»Nicht jetzt aufmachen, später!«

»Die Klage ist schon eingereicht«, verkündete Heinz glücklich.

»Und du glaubst …«

»Was denn? Du nicht? Natürlich geht jetzt alles gut! Ich bin nur wütend darüber, daß meine Mutter diesen Prozeß nicht früher geführt hat.«

»Deine Mutter hat es schwer, Heinz …«

»Ja, sicherlich. Ich bin ja schon ruhig. Ach, Bianca, daß wir uns jetzt immer sehen können! Jede Nacht vor dem Einschlafen schaue ich das Foto von dir an, das du mir geschickt hast.«

»Das tue ich auch, Heinz. Mit dem Foto von dir. Ich habe es gut versteckt, immer.«

»Ich auch, natürlich.«

»Wenn ich nicht zu Hause bin, trage ich es bei mir …«

»Das ist leichtsinnig! Wenn es dir aus der Tasche fällt …«

»Es fällt mir nicht aus der Tasche. Willst du wissen, wo ich es habe?«

»Ja … ja …« Er preßte sich enger an sie, er spürte ihren heißen Atem im Gesicht, als sie sprach.

»Greif in meine Bluse … in die linke Hälfte vom Büstenhalter … ja … da … oh, Heinz …«

Die Minoritenkirche liegt an der Rückfront des Bundeskanzleramtes, das sich am Ballhausplatz befindet und damals Sitz des Reichsstatthalters war. Hier sieht man einen Teil des ältesten Wien – winzige Gäßchen, schöne Palais mit seltsamen Gestalten aus verwittertem Stein an den Fassaden. Die Kirche war im Lauf der Jahrhunderte zum Teil zerstört worden. Ein Eck des Daches fehlte, ebenso der oberste Teil des Turms, der bei einer Türkenbelagerung abgeschossen worden war. In die Wände des Arkadenganges hatten ungezählte Verliebte ihre Namen oder ihre Initialen in den Stein gekratzt. Auch Heinz hatte das getan. Da, wo sie nun standen, gab es in Kopfhöhe ein primitives Herz, darin die Buchstaben B. H. und H. S., darunter die Jahreszahl 1941, danach einen waagerechten Pfeil, und dieser deutete auf eine kleine liegende 8 – das mathematische Zeichen für ›Unendlich‹. 1941 hatten sie einander kennengelernt, und bis in die Unendlichkeit hinein wollten sie einander lieben.

Heinz streichelte Biancas Brustwarze. Sie stöhnte leise, und ihre Hände wühlten in seinem blonden, kurzgeschnittenen Haar.

»Nicht, tu das nicht, Heinz … bitte, nicht … Ja, ja … tu es weiter …«

»Ich halte das nicht mehr aus, Bianca, ich will …«

»Ich doch auch! Wenn du mich nur anrührst, werde ich halb verrückt!«

»Wann, Bianca, wann?«

»Der Winter geht vorüber … Wenn es wieder Frühling wird … Wenn es warm ist …«

»Ja, ja …«

»Dann, Heinz, dann …«

»Ich muß weg.«

»Ich auch.«

»Vor dem Heiligen Abend sehen wir uns nun nicht mehr – du hast ja keinen Schulungsabend mehr.«

»Nein, aber am achtundzwanzigsten wieder.«

»Ich werde hier sein wie immer. Und, Bianca, am Heiligen Abend, um diese Zeit, da gehe ich noch einmal aus dem Haus und schaue in den Himmel … Tu das auch … Vielleicht ist es klar, und es sind Sterne da …«

»Ja, Heinz … Dann werden wir dieselben Sterne sehen und aneinander denken …«

»Und wenn nur Wolken da sind, sehen wir dieselben Wolken.«

»Lieber Himmel, liebe Wolken, liebe Sterne, lieber Heinz …«

Sie umarmten und küßten einander noch einmal lange. Dann hastete Bianca fort, und Heinz wandte sein schwer bepacktes Fahrrad und schob es nach der anderen Richtung durch die Arkaden. Jetzt mußte er sich beeilen! Er sauste wie ein Rennfahrer über die abendlich verdunkelten Straßen zu dem Kino im Neunten Bezirk. Er schaffte es rechtzeitig wie immer. Der Vorführer in seiner Kabine nahm ihm die Kartons ab.

»Warte ein paar Minuten, dann geb ich dir die nächsten zwei Rollen. Die eine ist noch nicht ganz abgelaufen.« Aus dem Kinosaal klangen die Stimmen von Schauspielern. Der linke Vorführapparat arbeitete summend. In die rechte Maschine legte der ältere Mann einen neuen Akt ein.

Heinz setzte sich auf eine kleine Bank und öffnete das Päckchen, das Bianca ihm geschenkt hatte. Ein grauer, dicker Wollschal mit Fransen, ein paar dicke, graue Wollhandschuhe lagen darin, ein Tannenzweig und ein Kuvert. Heinz riß es auf, nahm den Briefbogen heraus und las: ›Mein Liebster! Du bist doch immer nachts unterwegs, und da ist es so kalt. Darum bekommst Du diese Geschenke. Ich habe sie selber gestrickt – heimlich, zu Hause, vor dem Einschlafen. Der Schal war ja leicht, aber die Finger der Handschuhe! Dazu habe ich schon meine ganze Liebe gebraucht. Fröhliche Weihnachten, geliebter Heinz, Deine treue Bianca.‹ Und darunter: ›P. S. In großer Sehnsucht.‹

Zu dieser Zeit saß Bianca Heizler in einem Saal des alten Palais an der Herrengasse. Drei Dutzend Mädchen saßen um sie herum. Vorn, an der Stirnseite des Saals, vor einer herabhängenden Hakenkreuzfahne und einer Hitlerbüste aus Gips, stand ein älteres Mädchen auf einem Podest und deklamierte voller Begeisterung ein Gedicht aus einem ledergebundenen Band: »Mein Führer, sieh, wir wissen um die Stunden, in denen du hart an der Bürde trägst – in denen du auf unsre tiefen Wunden die liebevollen Vaterhände legst und noch nicht weißt: wie wirst du uns gesunden …« Bianca saß seitlich. Vorsichtig und langsam öffnete sie das kleine Päckchen, das Heinz ihr gegeben hatte. Eine Schachtel lag darin. Bianca hob den Deckel ab. In gelbe Watte gebettet erblickte sie einen Silberring, der eine Emailleplatte trug wie einen flachen Stein. Die Platte zeigte eine phantastisch gezeichnete Schmelze in Rot, Grün, Weiß, Gelb, Schwarz, Blau und Lila.