Eine kleine Karte lag in der Schachtel. Bianca las, vorgeneigt, was Heinz dazugeschrieben hatte, während die Leiterin des Kurses weiter die Hymne an den Führer vortrug: »… darum ist unsere Liebe auch so groß, darum bist, Führer, du der Anfang und das Ende …«
›Meine geliebte Bianca! Diesen Ring haben wir doch vor ein paar Monaten in dem Geschäft gesehen, und er hat Dir so gefallen. Also habe ich ihn damals schon angezahlt und jetzt endlich abgestottert …‹
Wo hatte er das Geld her? überlegte Bianca. Ach, er wird es sich zusammengespart haben von seinem lächerlichen Lohn …
»… wir glauben dir, treu und bedingungslos …«, trompetete die BDM-Führerin vorne, unter der Fahne.
›… Heb den Ring auf, versteck ihn, ich weiß, jetzt kannst Du ihn höchstens tragen, wenn wir uns treffen. Aber noch etwas Geduld, nur noch etwas Geduld, und Du wirst ihn immer tragen können, solange Du mich so liebst wie Dich Dein Heinz.‹
»… und unser Werk des Geistes und der Hände ist die Gestaltung unseres Dankes bloß!« endete die BDM-Führerin.
Mit einem Lächeln schob Bianca Heizler den Ring auf einen Finger der linken Hand …
18
»… und ich trage ihn noch immer, das ist er«, sagte Bianca Barry, 27 Jahre später, während sie ihre linke Hand hochhielt. Manuel wandte kurz den Blick von der Straße, über welche der Schnee wehte, Irene betrachtete den Ring länger.
Manuel bemerkte, daß die Straße schmäler wurde. Häuser tauchten auf, der Eingang einer Ortschaft. Ein Schild: FISCHAMEND. Eine Brücke über einen zugefrorenen Bach. Gleich dahinter ein Tor durch einen hohen Turm mit Zinnen und Fenstern und einer Haubenkuppel.
»Jetzt sind wir gleich da«, sagte Bianca. Manuel hatte das Tor passiert.
»Halten Sie da drüben.«
Sie befanden sich auf einem großen, langgestreckten Platz, der von niedrigen Häusern gesäumt wurde. Die Hauptstraße führte durch den Ort weiter. Manuel bog nach rechts und blieb stehen.
»Steigen wir aus«, sagte Bianca.
Sie traten ins Freie. Die Luft war hier sehr rein und schneidend kalt. Als Manuel den Wagenschlag an seiner Seite absperrte, kam ein grauer Peugeot, in dem zwei Männer saßen, durch die Turmeinfahrt gerollt und fuhr den großen Platz ein Stück weiter hinauf, bevor auch er hielt. Niemand stieg aus.
Eine Falle? überlegte Manuel kurz. Oder war das einer jener Wagen, die ihm immer folgten?
»Das ist ein uralter Ort«, sagte Bianca. »Der Turm da entstand im elften Jahrhundert.«
Irene wies auf ein sauber und gepflegt aussehendes kleines, einstöckiges Gebäude. In geschwungenen weißen Neonleuchtbuchstaben war über den unteren Fenstern das Wort MERZENDORFER zu lesen. Das Haus hatte eine große geöffnete Einfahrt. Man sah einen verschneiten Hof, in dem alte Bäume standen.
»Ein berühmtes Feinschmeckerlokal für Fischliebhaber«, erklärte Irene. »Im Sommer sitzt man im Freien, unter den Kastanienbäumen, unter Blumenranken, die sich an Drähten entlangziehen. Der Ziehbrunnen da links, der ist gewiß auch uralt. Wollten Sie hierher mit uns, Frau Barry?« Die Frau des Malers hörte nicht. Sie starrte ein Haus in der Mitte des Platzes an. Dort gab es ein ›Kolonialwarengeschäft‹.
»Frau Barry!«
Sie wandte den Blick nur langsam von dem Geschäft fort.
»Ja, bitte?«
»Ich sagte, wollten Sie mit uns zum ›Merzendorfer‹ …«
»Nein. Hierher, auf diesen Platz. Und dann noch ein Stück weiter.« Sie wies mit der ausgestreckten Hand nach Norden. »Da hinten ist die Station der Hainburger Bahn. Und hinter der Bahn gibt es eine Fabrik für Lacke. Ziemlich große Fabrik. Wurde nach dem Krieg neu aufgebaut. Im Frühsommer 43 haben sie Heinz da dienstverpflichtet. Als Hilfsarbeiter.«
»Hilfsarbeiter? Aber er verstand doch etwas von Chemie!«
»Nicht von organischer. Oder zu wenig. Er schuftete hier wie die Zwangsarbeiter, wie die Gefangenen.«
»Hier?« Manuel sah Bianca an. »Aber das ist doch …«
»Weit weg von der Gentzgasse, bei Gott! Heinz mußte jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen und mit Straßenbahn, Stadtbahn und Hainburger Bahn fahren. Die Lage war damals schon kritisch. Nach Stalingrad forderte Goebbels den Totalen Krieg. Auch Frauen mußten in die Fabriken. Und niemand konnte sich aussuchen, wohin er gesteckt wurde.«
Der Peugeot stand immer noch reglos, mit abgestelltem Motor. Die beiden Männer am Steuer sahen die drei Menschen an, nur Manuel bemerkte es.
Irene fragte: »Ist das die Fabrik gewesen, in der …«
»Ja«, sagte Bianca Barry, »diese Fabrik, jetzt neu aufgebaut, wurde bei einem der schweren Angriffe auf das Industriegebiet hier und weiter oben bei Schwechat getroffen und flog in die Luft. Da drüben …« – wieder wies sie mit der Hand – »… ist Heinz ums Leben gekommen. Aber um Ihnen das zu sagen und zu zeigen, habe ich Sie natürlich nicht hergebracht. Kommen Sie mit mir. Sie werden gleich alles verstehen«, sagte Bianca Barry, einen letzten Blick auf das ›Kolonialwarengeschäft‹ werfend. Sie ging voraus, die Hauptstraße hinauf, zwischen den niederen Häusern weiter. »Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte Manuel. »Ich muß telefonieren.«
Damit betrat er schon die Einfahrt zu dem Restaurant ›Merzendorfer‹. Er rief zweimal, bevor ein Kellner erschien. Um diese Zeit des Tages war es hier still. Manuel äußerte seinen Wunsch, der Kellner führte ihn in ein kleines Büro, in dem ein Telefonapparat stand, und ließ ihn allein.
Hofrat Wolfgang Groll meldete sich sofort, nachdem der Beamte in der Telefonzentrale des Sicherheitsbüros die Verbindung hergestellt hatte. Manuel sagte, wo er sich befand und in welcher Gesellschaft.
Groll unterbrach ihn: »Und ein grauer Peugeot mit zwei Männern ist Ihnen gefolgt.«
»Woher wissen …«
»Unser Freund Santarin hat angerufen und mich beruhigt. Das sind seine Leute. Die passen auf Sie auf. Wir können ja leider niemanden ständig zu Ihrem Schutz …«
»Ja, ja, ich weiß. Und es war sicher Santarin?«
»Sicher«, sagte Groll. »Ich rief zurück. Was machen Sie da unten, Manuel? Was will diese Bianca Barry Ihnen zeigen?«
»Keine Ahnung. Ich erzähle es Ihnen, wenn ich nach Wien zurückkomme …«
19
Weiß, weiß, weiß war alles in der bizarren Au-Landschaft: die uralten Bäume, die Weidenstrünke, das dichte Unterholz; die zugefrorenen Altwassertümpel; die Sumpfwiesen zu beiden Seiten der breiten, freigeräumten Allee, die von der Hauptstraße in Fischamend fort zur Donau führte. Erstarrt war diese Welt, unheimlich und faszinierend. Hier wehte kein Wind.
Sie gingen nebeneinander, Bianca in der Mitte. Die Frau in dem hellen Nerzmantel sah sich um, wie man sich, träumend, auf einer Straße umsieht, die zurück in die Jugend führt.
»Sie haben die Allee freigeräumt«, sagte Bianca. »Viele Gäste vom ›Merzendorfer‹ machen einen Spaziergang hinunter zum Wasser. Und die Fischer kommen mit ihren Motorrädern vom Strom herauf. Damals gingen sie noch zu Fuß, die alten Männer, die hier hausten. Es ist alles noch wie damals, alles … Und ich erkenne alles wieder … jeden Baum, jeden Tümpel, die Büsche ..«
Über Bianca hinweg sahen Irene und Manuel einander an. Sie bemerkte es nicht. Mehr und mehr versank sie in Erinnerung.
»Ich war schon lange nicht hier … bestimmt zwei Jahre. Früher bin ich oft hergekommen. Und ich ging immer diese Straße hinunter zum Strom …«
Die Bäume wurden niedriger, das Unterholz wurde dichter. Die zwei Russen aus dem Peugeot waren am Anfang der Allee stehengeblieben und sahen den drei Menschen nach, die sich mehr und mehr von ihnen entfernten.