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»Was ist das?« fragte Bianca.

»Nichts.« Manuel fröstelte plötzlich. Es wurde dämmrig.

»Damals, in jener Nacht«, sagte Bianca, »da stand ich noch zehn Minuten hier, auf diesem Fleck. Ich konnte mich nicht rühren. Dann lief ich zum Bahnhof. Immer noch mit dem Russenmantel und der Brottasche. Der letzte Zug nach Wien war abgefahren. Ich mußte zu Fuß gehen.«

»Was, von hier bis nach Wien?«

»Ja«, sagte Bianca. »Über fünf Stunden war ich unterwegs. Irgendwo hinter Schwechat habe ich den Mantel und den Beutel weggeworfen. Mutter war halbtot vor Angst, als ich endlich ankam. Ich mußte ihr die Wahrheit sagen – wenigstens, daß ich Heinz getroffen hatte. Meine Freundin konnte mir da nicht mehr helfen.«

»Und?«

»Nichts und«, sagte Bianca. »Mein Vater war ja verreist, zum Glück. Und Mutter hatte fürchterliche Angst vor ihm. Eine schwache, hilflose Person. Sie weinte bloß, und sie ließ mich schwören, daß ich Heinz nun nicht mehr sehen würde. Ich schwor. Mir war alles so egal, so egal. Ich konnte nicht mehr. Meine Füße bluteten. Ich war vollkommen erschöpft. Mein Vater hat nie etwas erfahren …«

Wieder folgte ein Schweigen.

Dann sagte Bianca: »Verstehen Sie jetzt, warum ich Sie hierher geführt habe? Daß ich Ihnen die Insel zeigen wollte, wenn ich Ihnen meine Geschichte mit Heinz erzählte?«

»Ja«, sagte Irene.

»Es war der wichtigste und der schönste und der schrecklichste Tag für mich«, sagte Bianca. »Jetzt kennen Sie mein Geheimnis. Es hat nur einen Mann gegeben, den ich ohne alle Grenzen, besinnungslos und bedingungslos liebte. Sie sollten sehen, wo es geschehen ist, damals, an jenem Sonntag im Juni, Sie sollten es sehen. Es hilft Ihnen nicht weiter, Herr Aranda, bei Ihrer Suche, nicht wahr?«

»Es hilft mir sehr weiter«, sagte er hilflos und erschüttert über diese junge Frau. »Ich verstehe jetzt alles, was damals geschah, viel besser … die Verzweiflungen … und die Glückseligkeiten …«

Bianca sagte: »Es war wundervoll, wie er sich benahm, damals, so wundervoll, nicht wahr?«

Manuel konnte nur nicken, aber Irene sagte laut: »Ja.«

»Die Wahl, vor die er mich stellte … Er war ein einzigartiger Mensch … und niemals, niemals«, sagte Bianca, »werde ich einen anderen Menschen so bewundern, so verehren, so lieben können wie ihn, nein, niemals. Heinz ist mein Vorbild und meine Sehnsucht und mein ganzer Lebensinhalt geworden, mein ewiger Geliebter …«

24

Zu dieser Zeit lauschte der Anwalt Dr. Rudolf Stein gerade der bewegten Klage einer gewissen Victoria Rayo. Seine achtundzwanzigjährige, sehr attraktive und elegante Besucherin, Wienerin, erzählte dem Anwalt, an den sie sich, wie sie sagte, wegen seiner großen Erfahrung in solchen Fällen gewandt hatte, diese Geschichte: Fünf Jahre lang war sie die Freundin und Verlobte eines überaus vermögenden Fabrikanten in Innsbruck gewesen. Während dieses Zeitraums hatte sich der um viele Jahre ältere Mann zwei schweren Tumor-Operationen unterziehen müssen, was eine Heirat immer wieder verzögerte. Victoria Rayo sollte jedoch, so hatte ihr Freund feierlich versprochen, im Falle seines Todes die Haupterbin sein, eine Schwester, mit der er in Feindschaft lebte, nur ihren Pflichtteil erhalten. Eine Woche zuvor, am Abend ehe er sich in das Krankenhaus begab – eine neuerliche Operation war notwendig geworden –, hatte der reiche Mann angeblich der Schwester, die ebenfalls in Innsbruck lebte, ein Testament in die Schreibmaschine diktiert und es dann mit fast gelähmter rechter Hand mühsam unterzeichnet. Das Testament war durchaus in dem versprochenen Sinn abgefaßt gewesen, jedoch hatte der Kranke es unbegreiflicherweise verabsäumt, das nicht handgeschriebene Dokument von zwei Zeugen unterschreiben zu lassen. Solches erschien bei einem gewieften Geschäftsmann höchst ungewöhnlich, fand Victoria Rayo.

Ihr Freund starb während der Operation. Unmittelbar nach dem Begräbnis holte die Schwester heimlich das Testament aus dem Haus und brachte es zum Bezirksgericht, wo es denn auch sofort für ungültig und die Schwester zur Universalerbin erklärt worden war. Gegen diese Entscheidung erhob Steins Besucherin Klage. Sie sprach den Verdacht aus, die Schwester selber habe das Testament verfaßt und mit einer hingekrakelten Unterschrift versehen. So weit hatte Victoria Rayo ihren Fall erläutert, als plötzlich von draußen, aus dem Sekretariat der Kanzlei, das Geschrei mehrerer Mädchen und das Toben einer Männerstimme durch die gepolsterte Bürotür drangen. Dieses Büro war sehr groß, alte Möbel standen darin, die schweren Vorhänge der Fenster, die auf den Kohlmarkt hinausgingen, waren geschlossen, elektrisches Licht brannte und ließ die silbergraue, mannshohe Tür des Tresors, der hinter dem Schreibtisch des Dr. Stein in die Mauer eingelassen war, mild schimmern, das verchromte große Rad der Panzerplatte aufleuchten.

»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein. Ich muß sehen, was da los ist … Es dauert nur einen Moment …« Stein eilte aus dem Büro und schloß die Doppeltür hinter sich. Im Sekretariat, in dem vier Mädchen arbeiteten, wütete ein riesiger Betrunkener. Er jagte hinter den kreischenden Sekretärinnen her, fegte Akten und Papiere von Tischen, hob und zertrümmerte einen Stuhl und warf sich mit einem heiseren Aufschrei auf Stein, als er dessen ansichtig wurde.

»Du Schwein, du hast mir mein Geld gestohlen!« brüllte er.

Stein, überrumpelt durch die plötzliche Attacke, stürzte. Der Betrunkene, der nach Schnaps stank, als wären seine Kleider mit Fusel getränkt, fiel über ihn und versuchte, Stein zu schlagen und zu würgen. Dabei fluchte und brüllte er unentwegt weiter. Sein übler Atem traf des Anwalts Gesicht. Aus einer anderen Tür kam der Kompagnon Weber. Die Mädchen schrien laut um Hilfe. Eines von ihnen versuchte, die Polizei zu alarmieren. Mit einem Anlauf stürzte der jüngere Weber sich auf den Betrunkenen, der Riesenkräfte entwickelte. Nun rollten die drei Männer auf dem Boden umher. Der Telefonapparat, von dem aus das Mädchen die Funkstreife rufen wollte, krachte zu Boden und brach entzwei. Hausbewohner kamen herbeigeeilt und versuchten, ungeschickt und einander behindernd, den Anwälten zu helfen. Das Chaos war vollkommen …

Währenddessen hatte die elegante junge Dame, die sich Victoria Rayo nannte, eine Kamera mit aufgestecktem Blitzlichtwürfel aus der Handtasche genommen. Ruhig und schnell begann sie das Büro und den Tresor zu fotografieren, indessen von draußen Kampfeslärm, das Fluchen der Männer und das Kreischen der Mädchen zu ihr schollen.

Als der erste Blitzlichtwürfel nach vier Aufnahmen verbraucht war, steckte ihn die Dame in eine Kostümtasche, der sie einen neuen entnahm. Sie ging jetzt dicht an die Tresortür heran und fotografierte sie von allen Seiten, insbesondere den kegelstumpfförmigen Einstellknopf über dem großen Chromrad und den Kreis aus Zahlen und feinen Strichen, welcher jenen Konus umgab, sowie das Schild der Herstellerfirma, das sich, nahe dem Boden, in der unteren linken Ecke der Tresorwand befand und Angaben über Herstellungsjahr, Typenbezeichnung, Seriennummer und ähnliches eingestanzt trug.

Draußen wurde es plötzlich ruhiger.

Victoria Rayo erhob sich ohne Eile, nahm wieder Platz, steckte die Kamera ein, entzündete sich noch eine Zigarette, damit man den Geruch der abgebrannten Blitzlichter nicht wahrnehmen konnte, und kreuzte die schönen Beine.

Im Sekretariat hatten sich Weber und Stein erhoben. Der betrunkene Riese war ihnen plötzlich entwischt und, indem er sich einen Weg durch die Menge der Gaffer schlug, blitzschnell aus der Eingangstür der Kanzlei gestürzt.

»Wie ist der Kerl hereingekommen?« fragte Stein, das Haar glättend und seine Krawatte hochziehend.

»Einfach so. Wie er jetzt raus ist«, sagte eines der verstörten Mädchen.

»Tür aufgerissen und auf uns los! Der eine Apparat ist hin. Aber wir haben noch den zweiten. Sollen wir nicht doch die Polizei …«

»Das hättet ihr früher tun müssen!« rief Dr. Stein wütend. »Jetzt erwischen sie den Burschen nie mehr. Wieso konnte er denn überhaupt in den Vorraum?«