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Wenn er mich fragte, dachte Irene, wenn er mich doch fragte! Ja, ich würde mit ihm gehen! Alles hier aufgeben. Die Apotheke verkaufen oder verpachten. Mich hält nichts mehr. Oder doch? Die Eltern?

»Wohlan!« ertönte die Stimme Nathans, der vom Rat des Richters erzählte. »Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilf’! …«

Ich würde meine Eltern verlassen, dachte Irene, um mit Manuel gehen zu können. Die alte Agnes hat ihren Geistlichen Herrn. Meine Eltern haben einander. Ob er mich fragt?

Ob ich es wagen darf, sie zu fragen? dachte Manuel.

»… und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euren Kindes-Kindeskindern äußern: So lad’ ich über tausend tausend Jahre sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weis’rer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich und sprechen. – Geht! – So sagte der bescheidne Richter …«

Irene wandte plötzlich den Kopf und sah Manuel an.

»Wunderbar«, sagte sie. »Nicht wahr?«

»Ja«, sagte er atemlos, »ganz wunderbar.«

Danach blickten sie beide schnell nach vorne zu der Mattscheibe, und sie sprachen nicht miteinander, sie sahen sich nur immer wieder von der Seite an. Aber als Lessings ›Dramatisches Gedicht‹ zu Ende war, verriet keiner dem andern einen einzigen seiner Gedanken. Sie waren plötzlich beide sehr verlegen. Manuel verabschiedete sich bald. Irene begleitete ihn hinunter, denn sie mußte das Haustor aufschließen. Es schneite noch immer.

Das Licht im Stiegenhaus erlosch.

Wird er mich küssen? dachte Irene.

Ich möchte sie so gerne küssen, dachte Manuel. Aber ich wage es nicht.

»Gute Nacht, Irene«, sagte er.

»Gute Nacht, Manuel«, antwortete sie.

26

»Sie machen sich keine Vorstellung davon, was die bei der anthropologischen Untersuchung aufführten! Was die alles untersuchten! Die irrwitzigsten Messungen nahmen sie vor! Und ein gewaltiges Instrumentarium gab es …« Martin Landau holte Atem. »Vorgeschrieben vom Reichssippenhauptamt, in Erlassen und Paragraphen und Weisungen festgelegt für Untersuchungen zur Rassenbestimmung, für Vaterschaftsprozesse, Abstammungsprozesse, Klärung der Frage, ob ein Mensch im Zweifelsfalle zur nordischen, arischen Herrenrasse gehörte oder zu einer minderwertigen Rasse von Sklavenvölkern, Untermenschen, Tiermenschen, die eben noch geeignet waren für schwerste Arbeit oder ausgemerzt werden mußten vom Antlitz der Erde – nach dem Willen von so fetten Schweinen wie dem Pornographen und Judenhasser Streicher, dem aufgeschwemmten, versoffenen Doktor Ley, dem kleinen Doktor Goebbels mit seinem Klumpfuß, dem morphiumsüchtigen Göring, dem halbirren Heß, immerhin dem Stellvertreter des Führers, von Quadratschädeln mit Specknacken, Psychopathen, Drüsengestörten, pervertierten Kleinbürgern wie Himmler und menschlichen Karikaturen wie Rosenberg und Ribbentrop!«

»Wären sie nicht so entartet und mißgestaltet gewesen, hätten sie wohl nicht mit solch furchtbarem Fanatismus ihren Traum von der herrlichen blonden, blauäugigen Superrasse geträumt«, sagte Manuel Aranda.

Er saß mit dem Buchhändler an einem Fenstertischchen des Glaspavillons auf dem Cobenzl.

Manuel hatte Juan Cayetano und die beiden Anwälte nach Schwechat zum Flughafen gebracht. Sie waren in der Mittagsmaschine abgeflogen. Alles war geregelt, Cayetano konnte, mit sämtlichen Vollmachten versehen, das Werk nun weiterführen.

Zum Abschied hatten die Männer einander umarmt.

»Paß auf dich auf, Junge …« Cayetano war bewegt gewesen.

Manuel hatte im Flughafenrestaurant gegessen und war dann zum Cobenzl hinaufgefahren, wo er sich mit Landau verabredet hatte. Denn gemäß der Warnung Grolls vermied er nun in seinem Appartement im ›Ritz‹ wichtige Gespräche oder Telefonate.

Der Buchhändler war mit dem neuen Treffpunkt einverstanden gewesen. »Wenn Sie noch zum Flughafen müssen, dann nehme ich die Straßenbahn und einen Bus, der da hinauffährt. Sonst wird es zu spät. Sie müssen mich aber in die Stadt zurückbringen, damit ich rechtzeitig im Laden bin. Sie wissen doch, Tilly …«

»Selbstverständlich«, hatte Manuel gesagt.

Nun aß Landau bereits das zweite Stück Cremetorte und berichtete von den Untersuchungen, die das Gericht nach der ersten Verhandlung angeordnet hatte. Er trank Kaffee wie Manuel, der, an Bianca Barrys Erzählung denkend, fragte: »Diese anthropologische Untersuchung – wann fand die statt?«

»Im Mai 43. Am zehnten. Kann auch der elfte oder der zwölfte gewesen sein, ich erinnere mich nicht genau daran. Heiß war es, furchtbar heiß. Damals kam der Sommer sehr früh.«

Ja, das hatte Bianca auch gesagt …

»Und die Blutgruppenuntersuchung? Wann wurde die vorgenommen?«

»Etwa eine Woche danach.« Landau wischte sich den fettigen Mund ab und legte die Kuchengabel fort. »Sie sind erstaunt, daß so viel Zeit zwischen der Verhandlung und den Untersuchungen verging? Vor allem war das dem Doktor Forster zu verdanken. Der trödelte herum mit der Beantwortung aller Briefe und Eingaben. Der wollte den Prozeß so lange wie möglich führen, verstehen Sie? Daß wir diesen Krieg nicht gewinnen würden, das war Mitte 43 nur noch Idioten nicht klar. Und dann dauerte es Wochen, bis die Institute ihre Berichte an das Gericht und an Forster schickten.«

Das bedeutet, dachte Manuel, daß Heinz Steinfeld bei seinem großen Erlebnis mit Bianca auf jener Donauinsel und danach bei jenem anderen, erschreckenden mit dem geflohenen russischen Gefangenen die Untersuchungen schon hinter sich hatte, ohne die Ergebnisse zu kennen. So erklärte sich seine euphorische Stimmung …

»Wir wurden der Reihe nach aufgerufen«, berichtete Landau. »Heinz kam zuerst dran. Es dauerte endlos. Valerie und ich saßen in einem großen Wartezimmer. Sie war furchtbar nervös, das können Sie sich vorstellen, nicht wahr? Außer uns beiden warteten noch zwei Menschen. Sehr höflich. Sie flüsterten miteinander. Ab und zu lächelten sie uns an. Und trotzdem kam es ihretwegen fast zu einer Katastrophe.«

»Weshalb?«

»Da saß also zunächst eine junge Frau, fast ein Mädchen noch, sehr schlank, hübsch, groß, brünettes Haar, helle Augen …«

27

… und neben ihr saß, trotz der Hitze in einem korrekten schwarzen Anzug mit Weste, ein Japaner. Er war mindestens zwei Köpfe kleiner als das Mädchen neben ihm, sehr zierlich und von zartem Körperbau. In seinem olivenfarbenen Gesicht mit den hohen Wangenknochen sah man, hinter einer runden Stahlbrille, schräggestellte dunkle Augen. Der kleine Herr hatte schwarzes, glänzendes Haar. Einen schwarzen Hut hielt er auf den Knien, in zierlichen, olivfarbenen Händchen. Er hatte beim Hereinkommen mit einer tiefen Verbeugung gegrüßt und gelächelt. Ergebenheit und Höflichkeit durch weitere Verbeugungen zum Ausdruck bringend, hatte er – wie Valerie und Landau vor ihm – einer jungen Assistentin im weißen Mantel zwei Vorladungen überreicht. Die Assistentin war verschwunden. Vor einer guten Stunde hatte sich das ereignet. Der japanische Herr – sein Alter konnte man nicht bestimmen, vielleicht war er fünfundzwanzig, vielleicht war er vierzig – lächelte zwar immer noch, wenn er zufällig zu Valerie und Landau herübersah, aber er schien Sorgen zu haben. Und sorgenvoll flüsterte er mit der um so viel größer wirkenden jungen Frau. Valerie trug ein leichtes Sommerkleid, Landau einen hellen Anzug. Er beobachtete seine Freundin unglücklich. Sie wurde immer nervöser, rutschte auf der Bank herum, schlug andauernd ein Knie über das andere und betupfte die schweißfeuchte Stirn mit einem Taschentuch. Sie denkt an Heinz, natürlich, überlegte Landau. An Heinz, der hinter einer dieser Türen halbnackt oder nackt vor SS-Doktoren und SS-Dozenten steht und gewogen, gemessen, abgezirkelt und vom Kopf bis zu den Füßen begutachtet wird …