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Mehrmals versuchte Landau, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Valerie antwortete nicht. Ihr Gesicht war bleich, sie konnte die Hände nicht ruhig halten. Nun, nach mehr als einer Stunde, sagte sie gleichermaßen angsterfüllt und zornig: »Wie lange brauchen die denn noch? Das ist ja zum Verrücktwerden …«

»Valerie!« Landau konnte sie eben noch zum Schweigen bringen, als eine Tür aufflog und ein sehr großer, starker Mann in das Wartezimmer trat. Er hatte millimeterkurz geschnittenes blondes Haar, Schmisse in dem kantigen Gesicht, und er trug einen weißen Ärztemantel. Man sah jedoch auch eine schwarze Uniformhose, Schaftstiefel und den Kragen eines Braunhemds mit schwarzem Schlips.

Dieser Arzt nahm von Valerie und Landau keinerlei Notiz, sondern wandte sich sofort an den kleinen Japaner.

»Herr Yoshida …«

Der Japaner sprang auf und verneigte sich lächelnd. Seine Begleiterin sah plötzlich ängstlich aus.

»Zu Ihren Diensten«, sagte Herr Yoshida sanft.

Der andere stellte sich vor: »SS-Sturmbannführer Doktor Kratochwil, Heil Hitler!«

»SS-Sturmbannführer Kratochwil? Sie sind der Leiter des Instituts!« Der kleine Japaner sprach mit schwerem Akzent deutsch.

Valerie und Landau hörten gespannt zu.

»Der kommissarische Leiter, jawohl.« Privatdozent Dr. Odilo Kratochwil hatte eine abgehackte, markige Art zu reden. Er hielt zwei Papiere in der Hand. »Kam heute später. Dringende Sitzung im Gauhaus. Finde Ihre Vorladungen auf meinem Schreibtisch. Schweinerei. Wahnsinnige Schweinerei!«

»Schweinerei, ich bitte, wieso?« flüsterte Herr Yoshida.

Kratochwil wippte ein paarmal in den Knien.

»Haben ein paar Kerle wieder Mist gemacht. Schon zusammengestaucht worden von mir. Ihre Vorladung erhielten Sie über die Adresse des japanischen Generalkonsulats?«

»Ja, Herr Sturmbannführer. Da arbeite ich nicht nur, da wohne ich auch. Fräulein Wiesner erhielt ihre Vorladung am gleichen Tag. Wir sind sehr besorgt. Nach einer so langen Verlobungszeit … Wir haben sie den Behörden doch gemeldet … Niemand hat etwas einzuwenden gehabt … Das Aufgebot ist bestellt … Und da sollen wir nun zuerst noch untersucht werden …«

Valeries Lippen waren nur ein Strich, ihre Augen halb geschlossen.

»Das ist es ja!« polterte Odilo Kratochwil, der so nonchalant Uniform und Arztmantel kombinierte. »Sie werden vorgeladen, weil ein vertrottelter Übereifriger auf dem Standesamt uns benachrichtigt hat und weil es bei uns – Gott sei’s geklagt! – eben auch ein paar Idioten gibt, die nicht wissen, was sie unseren Verbündeten in diesem Weltenkampf schuldig sind!«

»Ich verstehe nicht …«

»Herr Yoshida, und Sie, gnädiges Fräulein, Sie wurden zu Unrecht vorgeladen! Sie benötigen kein Rassengutachten, um zu heiraten! Erlaß des Führers! Die heroische japanische Rasse ist der nordisch-arischen völlig ebenbürtig und gleichgestellt!«

Die junge Frau sprang auf.

»Dann dürfen wir also heiraten?«

»Natürlich dürfen Sie heiraten!« Sturmbannführer Kratochwil verneigte sich charmant.

Valeries Hände ballten sich zu Fäusten. Landau sah es entsetzt.

Die beiden dürfen heiraten! hetzten Valeries Gedanken. Der kleine, schlitzäugige Japaner und die große deutsche Frau. Heiraten dürfen die! Und mein Heinz, den haben sie aus der Schule geworfen, der muß jeden Morgen um fünf Uhr aus dem Bett und als Hilfsarbeiter schuften, bloß weil er ein arisches Mädchen geküßt hat.

»… alte Samurai-Tradition, stolze Heldenrasse …«, hörte sie den Kerl im weißen Mantel, diesen uniformierten Menschenschinder, sagen, während ihre Gedanken weiterjagten: Der kleine Japaner kann ja nichts dafür!

Aber was sind das für Rassengesetze? Was ist das für ein verbrecherischer Betrug, das alles? Weil Japan in diesem Krieg an unserer Seite kämpft, sind die Japaner also so fein wie die feinsten Arier! Und wenn sie hundertmal einer anderen Welt angehören, eine andere Kultur haben, vollkommen anders aussehen als wir, und wenn sie im letzten Weltkrieg noch gegen uns gekämpft haben!

»… Stahlachse Tokio–Berlin–Rom …« Kratochwil dienerte jetzt vor Herrn Yoshida und dessen Verlobter.

Das ist ungeheuerlich! dachte Valerie bebend. Wie der Dreckskerl dem Japaner nun auch noch hineinkriecht! Damit er nur ja keine Unannehmlichkeiten mit höheren Bonzen kriegt! Wie die beiden sich voreinander verneigen! Mein Paul, der hat im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz bekommen aus deutscher Hand – für Tapferkeit vor dem Feind. Und was ist er heute? Ein dreckiger Jude, den sie umgebracht hätten, wenn er nicht geflüchtet wäre.

»Hahaha!« dröhnte der SS-Sturmbannführer, blutrot liefen die Schmisse in seinem zerhackten Gesicht an, während er Herrn Yoshida die Hand schüttelte und ihm auf die zierliche Schulter klopfte. »Also dann, nichts für ungut.« Er wandte sich an die junge Frau. »Und Ihnen wünsche ich alles Glück der Erde für Ihren Ehebund, Fräulein Wiesner.«

»Also, das ist doch …«, begann Valerie, schneeweiß im Gesicht, am ganzen Körper zitternd vor Wut. Blitzschnell packte Landau ihren Arm und preßte ihn, so fest er konnte. Der Schmerz brachte Valerie halbwegs zu sich. Sie stöhnte auf: »Au!«

Der Mann mit dem Ärztemantel über der Uniform fuhr herum. Seine Augen waren tückisch.

»Gibt’s was?«

»Nichts, nichts«, stammelte Landau.

»Frau Steinfeld, nicht wahr?« Die Stimme des SS-Sturmbannführers wurde scharf. »Sie sagten etwas! Ich hörte es! Was war es denn? Ein Einwand etwa?«

»Um Gottes willen!« rief Landau.

»Was denn sonst? Ich möchte es wissen! Los, Frau Steinfeld, was denn sonst?« hetzte Kratochwil.

Valerie antwortete, mit letzter Anstrengung, beherrscht: »Ich sagte nur, daß wir schon fast eineinhalb Stunden warten.«

»Werden noch viel länger warten müssen. Ihr Sohn ist noch nicht fertig. Wir arbeiten gründlich hier. Bitte höflichst, sich in Geduld zu fassen, Frau Steinfeld. Allerhöflichst!« Kratochwil blickte Valerie verächtlich an, dann wandte er sich wieder Yoshida zu: »Alles Gute, mein Lieber! Kenne Japan nicht, leider. Soll aber auf große Studienreise gehen nach dem Endsieg! Bis dahin – Heil Hitler!« Kratochwil riß eine Hand empor.

»Heil Hitler!« sagte Herr Yoshida.

»Heil Hitler!« sagte Fräulein Wiesner.

Auch sie hatten die Arme gehoben.

Glücklich lächelnd verließen sie den Warteraum. Sturmbannführer Odilo Kratochwil sah ihnen zufrieden nach. Valerie und Landau würdigte er keines Blickes. Er verschwand hinter der Tür, die er krachend hinter sich zuwarf.

»Diese Hunde«, flüsterte Valerie. »Hunde! Hunde! Hunde!«

28

»Um halb fünf waren wir alle drei dann endlich untersucht und durften gehen«, erzählte Martin Landau. Er hatte während seines Berichtes noch eine Portion Kaffee bestellt – mit viel Schlagsahne. »Heinz war bester Laune, Valerie einem Zusammenbruch nahe. Ich auch. Diese Kerle hatten uns alle behandelt wie ihr Chef. Heinz schien das nicht wahrzunehmen. Der letzte Dreck waren wir für die. Sogar ich, mit meinem Parteiabzeichen!«

»Und man sagte kein Wort über die Untersuchung?«

»Natürlich nicht. Die redeten kaum mit uns. Nur wenn es unbedingt erforderlich war. Heben Sie den Arm, drehen Sie den Kopf, ausatmen, einatmen – mehr nicht. Da war die junge Ärztin in der Sensengasse viel freundlicher!«

»Die junge Ärztin wo?«

»Im Gerichtsmedizinischen Institut. Was haben Sie denn? Warum schauen Sie so – ach, weil Ihr Vater auch dort …«

»Ja«, sagte Manuel, »weil mein Vater auch dort …« Im Kreis, dachte er, nun hat diese Geschichte sich völlig im Kreis gedreht, nun ist er geschlossen. Geschlossen um ein Geheimnis …

»Die Blutabnahme für die Gruppenbestimmung ging ganz schnell«, erzählte Landau weiter. »Sie nahmen uns das Blut aus den Fingerspitzen …« Er fuhr entsetzt herum, denn jemand hatte ihn an der Schulter gepackt. Es war seine Schwester. Sie trug wieder ihren Persianermantel, der mit Nerz verbrämt war, und die mit Nerz verbrämte Persianerkappe.