»Hab ich dich endlich erwischt!« sagte sie leise.
»Wer hat dir verraten …«
»Niemand«, sagte Tilly Landau. »Aber es ist mir in den letzten Tagen aufgefallen, daß du am Abend manchmal so nervös warst, wenn ich dich abholte. Und dann das Gerede von dieser Bibliothek, die du kaufen wolltest. Ich habe im Geschäft gefragt. Kein Mensch hat gewußt, wo diese Bibliothek ist, du hast keine Adresse genannt. Da habe ich heute aufgepaßt. Und gesehen, wie du aus der Buchhandlung fortgegangen bist. Ich hatte den Wagen dabei.«
»Gnädige Frau«, sagte Manuel, sich erhebend, »bitte, verzeihen Sie mir! Ich bin an allem schuld! Ich habe Ihren Bruder genötigt, gezwungen, geängstigt, damit er …«
»Ihnen von Valerie und uns und der Vergangenheit erzählte, das habe ich mir gedacht«, sagte Tilly Landau schnell. »Bis zur Sieveringer Kreuzung konnte ich der Straßenbahn nachfahren. Dann habe ich dich aus den Augen verloren, Martin. Aber ich habe mir gesagt, du mußt hier draußen irgendwo mit diesem Herrn zusammentreffen, und so war ich in Sievering in ein paar Lokalen, und über die Höhenstraße bin ich dann hierhergekommen. Martin, Martin, was hast du mir versprochen?«
»Tilly, du hörst doch, Herr Aranda sagt selber …«
»Das habe ich gehört. Warum hast du es mir nicht sofort erzählt? Nötigen? Erpressen? Drohen? Dem hätte ich was erzählt! Der hätte was erlebt! Der wird noch jetzt was erleben, das lasse ich mir nicht gefallen, daß einer einfach in unser Privatleben eindringt! Ich werde …«
»Gar nichts werden Sie«, sagte Manuel, der Tilly endgültig unerträglich fand.
»Nein? Na, das wollen wir erst einmal sehen! Los!« Sie zerrte ihren Bruder hoch. »Schluß jetzt hier! Wir beide sprechen uns noch, Herr Aranda!« Panik klang in ihrer Stimme auf, als sie sich an den Bruder wandte. »Hast du alles vergessen, was ich sagte? Willst du unbedingt auch draufgehen bei dieser Geschichte?«
»Draufgehen …«, stammelte Landau.
»Bewacht werdet ihr, damit du es nur weißt … Zwei Kerle in einem Riesenwagen draußen … auf dem Parkplatz … Sie hatten Ferngläser an den Augen, als ich kam. Und dann nahm einer einen Telefonhörer, während ich ausstieg, und sprach über Funk …«
»Über Funk …« Martin Landau wurde blaß. »Oh, Tilly, wenn die mir etwas tun …«
»Spät fällt dir das ein, sehr spät!«
Gäste hatten sich umgedreht, alarmiert durch die lauten Stimmen. »Wir gehen los!«
Landau machte eine traurige Bewegung mit den Händen, als wollte er sagen: Was kann ich tun?
Manuel stand schweigend da. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Aber, dachte er, was kann ich tun? Überhaupt nichts. Er sah zu, wie Tilly ihren Bruder durch das Lokal zerrte. Da, auf einmal, drehte der kleine Mann sich um und rief laut und trotzig zu Manuel zurück: »Das Ergebnis der Blutgruppenuntersuchung wurde Mitte Juni bekanntgegeben!«
»Und?« rief Manuel.
Wieder starrten die Gäste.
»Halt den Mund!« zischte Tilly.
Doch diesmal gehorchte ihr Bruder nicht.
»Verheerend!« rief er schnell. »Die Gruppen schlossen meine Vaterschaft aus! Hundertprozentig! Alles war zu Ende!«
29
»Alles ist zu Ende«, sagte Valerie Steinfeld.
Sie trug ihren schwarzen Verkäuferinnenmantel aus Glanzstoff und sah elend aus. Bleich war das Gesicht, unter den Augen lagen tiefe Schatten, sie sprach hoffnungslos. »Was soll jetzt geschehen? Bei der nächsten Verhandlung wird die Klage abgewiesen werden. Dann ist Heinz endgültig als Mischling gestempelt. Was werden sie mit ihm tun? Und was soll mein Mann erfahren? Davor habe ich ganz furchtbare Angst. Etwas müssen wir ihm doch mitteilen, Fräulein Hill. Aber was? Die Wahrheit …«
»Langsam«, sagte Nora Hill. »Ruhig, Frau Steinfeld. Das Ergebnis der Blutgruppenuntersuchung ist Ihrem Anwalt bekanntgegeben worden – wann?«
»Vor fünf Tagen«, sagte Valerie. »Am sechzehnten Juni.«
»An dem Tag kam ich gerade wieder aus Lissabon zurück.« Nora trug ein zweiteiliges Sommerkleid aus weißem Leinen. Die beiden Frauen saßen in dem Teekammerl der Buchhandlung Landau, in dem es angenehm kühl war trotz der unbarmherzigen Hitze, die seit Tagen über Wien lag. Elektrisches Licht der grünen Schreibtischlampe brannte. Direkt unter ihr lag das winzige Reh aus Blei, das Valerie im Januar Nora Hill gegeben hatte, damit sie es nach Lissabon beförderte, damit Jack Cardiff es weiter nach London beförderte, damit Paul Steinfeld einen Talisman besaß, der ihm Glück brachte. Mittlerweile hatte der Glücksbringer den weiten Rückweg angetreten und war nach Wien und zu Valerie heimgekehrt. Paul Steinfeld hatte zu Jack Cardiff gesagt: »Meine Frau braucht jetzt auch Glück.«
»Sie wird es Ihnen wieder schicken, das kleine Reh. Es wird dauernd unterwegs sein«, hatte Cardiff gesagt.
»Ein hübscher Gedanke«, hatte Paul Steinfeld erwidert …
Nun strich Valerie mit einem Finger über das kleine Stückchen geformtes Blei.
»Paul muß etwas geahnt haben … Er hatte schon immer einen so unheimlichen Instinkt … Mein Gott, was soll jetzt geschehen?«
»Weiß es Heinz bereits?« fragte Nora.
»Nein. Aber natürlich muß er es erfahren. Ich schiebe es hinaus und hinaus … Ich habe einfach nicht den Mut … Die Agnes weiß es … Die hat tagelang gebrochen vor Aufregung und im Bett liegen müssen. Aussehen tut sie wie ein Gespenst.« Im Verkaufsraum ertönte silberhell das Glockenspiel der Ladentür. »Und erst der arme Martin«, fuhr Valerie fort, während man leise und undeutlich Stimmen von draußen vernahm. »Der fürchtet sich zu Tode. Keine Nacht kann er mehr schlafen. Seine Schwester weiß auch noch nichts, er hat es ihr nicht gesagt, aus Angst. Aber sie bohrt und bohrt, er wird es ihr auch sagen müssen … und dann! Was die Tilly dann aufführen wird! Und was dem Martin passieren wird! In der Partei! Ich bin schuld! Ich habe alle diese Leute – die Frau Lippowski, die weiß auch noch nichts – hineingezogen in den Fall. Meinetwegen haben sie falsch geschworen! Was wird das nun für Folgen haben – für sie alle? Fräulein Hill, der Richter ist ein ganz wilder Nazi, der Kurator ein charakterloses Subjekt, ich habe Sie angelogen damals, im Riesenrad …«
»Ja, das fürchtete ich schon.«
»Nur, um Paul zu beruhigen! Jetzt … jetzt weiß ich nicht mehr, was ich tun soll …« Valerie hob den Kopf und sah Nora an.
»Was sagt Forster?«
»Der gute Doktor Forster … Er will einen Ausweg finden … Er überlegt sich etwas … Ich soll ruhig sein … und Martin auch … wir alle … Das ist das Wichtigste jetzt, daß wir nicht die Nerven verlieren …«
Nora Hill richtete sich auf.
»Sie dürfen wirklich nicht die Nerven verlieren, Frau Steinfeld!«
»Das sagen Sie so! Aber an meiner Stelle …«
»Ich vermag mich sehr gut an Ihre Stelle zu versetzen! Es muß einen Ausweg geben. Es gibt immer einen.«
»Hier nicht.«
»Doch! Wir kennen ihn nur noch nicht. Wir haben ihn noch nicht gefunden. Der Ausweg hat gar nichts dagegen, daß wir ihn finden.« Nora lachte mit Anstrengung. »Das kleine Reh wird Ihnen Glück bringen, passen Sie auf! Wir finden den Ausweg!«
»Wie denn?« fragte Valerie verzweifelt. »Wenn die Untersuchung doch eine Vaterschaft Martin Landaus eindeutig ausgeschlossen hat. Eindeutig! Fräulein Hill, das ist eine exakte Untersuchung, da gibt es keinen Irrtum, keinen Fehler, kein Versehen!«
Nora legte eine Hand auf Valeries Hand.
»Lassen Sie mir Zeit. Ein paar Tage. Ich muß mit meinem Freund reden. Dieser Carl Flemming ist ein ganz außerordentlich gescheiter Mann …«
30
»Halt! Moment!«
Manuel hatte sich aus seinem tiefen Sessel neben dem Kamin in Nora Hills Wohnzimmer erhoben. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr! Carl Flemming? Sie haben Frau Steinfeld gesagt, daß Sie damals ausgerechnet mit Flemming, Ihrem Chef, diesem Nazi, über einen Ausweg nachdenken wollten?«