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»Warum nicht?« meinte Groll. Ich vermag es mir so wenig vorzustellen wie du, dachte er. Aber habe ich eine andere Erklärung?

»Ja, warum nicht?«

»Herr Aranda«, sagte der Hofrat. »Wien ist eine sehr große Stadt …«

»Nicht so groß wie Buenos Aires!«

»Nein, das nicht. Aber es ist auch nicht die Stadt, wie die Welt sie zu kennen glaubt …« Groll setzte sich an seinen Schreibtisch, er blickte abwesend auf das Ginkgo-Blatt.

»Was soll das heißen?«

»Es gibt eine helle Seite dieser Stadt«, sagte der Hofrat, die eine Hälfte des Blattes mit einer Hand bedeckend, »und es gibt eine dunkle.« Er bedeckte die andere Hälfte. »Das ist seit den Türkenkriegen so. Länger – seit die Römer hier waren. Viele, viele Jahrhunderte ist dieses Wien Frontstadt gewesen, ist hier gekämpft worden, heimlich oder offen. Und eine Frontstadt ist Wien geblieben, Frontstadt … Die Vergangenheit – bei uns wurde sie Gegenwart. Es hat sich nichts geändert.« Abwechselnd bedeckte seine Hand die Blatthälften. »Ost und West«, murmelte er. »Die Roten und die Schwarzen … diese Weltanschauung und jene … Kämpfe wurden hier ausgetragen, länger, als das Christentum währt …«

»Zwischen Gut und Böse, jaja«, murmelte Manuel ungeduldig.

»Sagen Sie nicht jaja, junger Mann! Gut und Böse gehören zusammen.«

Die Hand strich über die eine Blatthälfte, dann über die andere. »Wer könnte das besser beurteilen als ein Mann in meinem Beruf? Wie oft ist für den einen böse, was für den anderen gut ist? Wieso gibt es überhaupt das Böse auf unserer Welt, wenn Gott doch gut ist? Nun, weil wir ihn nur so überhaupt existieren lassen können – mit dem Bösen …« Er bemerkte Manuels Blick und räusperte sich. »Gut und Böse«, sagte er laut, »was immer das ist, jawohl! Im Kampf miteinander über dieser Nahtstelle der Welt, genannt Wien …« Er zog an seiner Zigarre, er streichelte das Blatt. Manuel betrachtete ihn verwundert. »Ich weiß, für den Ausländer ist Wien die Stadt der Blauen Donau, der Spanischen Hofreitschule, der großen Sammlungen und Museen! Die Stadt Schönbrunns, des Belvedere und des Praters! Die Stadt von Lanner und von Strauß, des Burgtheaters und der alten Paläste, der Gärten und der Lichter, die Stadt der Fröhlichkeit und des Leichtsinns, der Sänger und der Geiger, der Musik und des Weins draußen in Grinzing … Aber wissen Sie, von wie vielen Agenten ausländischer Mächte in Österreich wir positiv Kenntnis haben? Von fünfzigtausend. Das ist die bekannte Zahl. Die Dunkelziffer liegt natürlich höher. Agenten aus dem Osten, Agenten aus dem Westen, hier arbeiten sie, hier, in der lieblichen, singenden, klingenden Wienerstadt. Und wissen Sie, wie viele Beamte die Staatspolizei gegen sie zum Einsatz hat? Vierhundert!«

»Wie viele?«

»Vierhundert. Sie haben schon richtig gehört«, sagte Groll und dachte: Und wie sicher sind diese vierhundert? Wie viele Male hatten wir schon unsere Skandale …

Manuel Aranda rief: »Warum vierhundert? Warum nicht viertausend? Warum nicht vierzigtausend? Warum sorgen Sie hier nicht für Ordnung? Warum beenden Sie diesen Zustand nicht?«

»Herr Aranda, wir sind ein neutrales Land. Die Alliierten haben uns einen Staatsvertrag gegeben, und ihre Truppen haben unser Land verlassen. Was glauben Sie, wie lange es dauern würde, bis die Truppen zurückkämen? Wie lange wären wir wohl geliebt und geschätzt, wenn wir die Geschäfte der Alliierten störten, die sie auf diesem ihrem Spielplatz abwickeln? Österreich ist klein, sehr klein. Es war eine gute Idee von allen, uns auszuwählen. Wer so klein ist wie wir, hat keine Wahl. Wer so klein ist, muß schweigen.«

»Und Sie schweigen!«

»Selbstverständlich«, sagte der Hofrat Wolfgang Groll.

»Aus Angst!«

»Natürlich aus Angst«, sagte Groll. »Wenn die Verantwortlichen eines Landes, das so klein ist wie das unsere, nicht Angst hätten und diese Angst als eine reale, nur allzu berechtigte Gegebenheit in alle ihre Handlungen einkalkulierten, dann hätten sie keine Phantasie und kein Verantwortungsgefühl, dann wären sie unfähig und gefährlich, dann müßte man sie von ihren Positionen entfernen.« Er sah Manuel an und fragte lächelnd:

»Erscheint Ihnen diese Einstellung feige oder verächtlich?«

»Nein«, sagte Manuel betroffen. »Nein!«

»Wir müssen immer so handeln, um das Schlimmste zu verhüten. Das ist das oberste Gesetz.«

»Was natürlich bedeutet, daß gewisse staatliche Stellen hier sich doch für den Tod meines Vaters interessieren.«

»Natürlich«, sagte Groll. »Aber keine dieser Stellen, niemand, auch ich nicht, darf Sie bei Ihren Nachforschungen offiziell unterstützen. Das verstehen Sie doch?«

»Ja.«

»Was nicht heißen soll«, murmelte der Hofrat, »daß ich nicht immer für Sie da bin.«

»Danke.«

»Ich habe keine Ahnung, was meine Hilfe wert sein wird. Aber Sie können immer zu mir kommen. Sie können mir alles erzählen. Vielleicht weiß ich Rat. Vielleicht weiß ich Hilfe. Vielleicht, Herr Aranda. Und jetzt geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie keinem Menschen erzählen werden, was ich Ihnen anvertraut habe.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort«, sagte Manuel und schüttelte die kühle, trockene Hand des Hofrats.

Das Telefon läutete.

Groll hob ab und sprach kurz. Dann sagte er: »Ihre Papiere sind fertig, Sie können sie abholen.«

»Ich danke Ihnen.«

Der beleibte Mann mit dem Silberhaar brachte Manuel zur Tür. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Seien Sie vorsichtig.«

11

»Jetzt ist es fest genug«, sagte Manuel Aranda. Gemeinsam mit Irene Waldegg hatte er den schwarzen Zirkel, das provisorische Grabkreuz, in die harte Erde gestoßen. Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen. Sie hatten sich rhythmisch wechselnd auf die Seiten der Querleiste gestemmt und so die Zirkelspitzen tiefer und tiefer gedrückt. Nun atmeten beide hastig. Aus der Ferne erklang wieder ein dumpfes Brausen, das lauter wurde. Die Krähen verstummten. Irene richtete sich auf. Dabei kam sie aus dem Gleichgewicht, glitt von dem Hügel herunter, schrie leise und erschrocken und streckte die Arme vor. Schnell packte Manuel zu. Im nächsten Moment schlug Irenes Kopf gegen seine Brust, ihre dunkle Brille fiel in den Schnee. Er hielt sie fest, noch auf dem Hügel stehend.

Clairon blinzelte.

Zum erstenmal war Arandas Kopf frei.

Clairon hob den Lauf der 98 k an, bis er diesen Kopf im Fadenkreuz hatte. Langsam jetzt, dachte er, langsam. Da hast du deine Chance. Gott gibt sie dir. Versau sie nicht. Paß auf …

Das Donnern der gestarteten Maschine der AIR FRANCE wurde immer gewaltiger. Es war 15 Uhr 11. Wieder stäubte Schnee auf von Grabhügeln und Ästen, wieder fielen Klumpen von den Bäumen.

»Ich … ich …«, stammelte Irene Waldegg. Sie sah zu Manuel empor. Jetzt konnte er ihre Augen erkennen. Sie waren braun wie das Haar und gerötet und verschwollen vom vielen Weinen.

»Ruhig«, sagte Manuel, »bitte, beruhigen Sie sich.«

Ihr Körper sackte plötzlich durch, er mußte sie an sich pressen. Ihre Knie gaben nach.

»Mir ist so schlecht … Ich habe mich zusammengenommen … Ich … Ich … ich dachte, es würde schon gehen … aber jetzt … zum erstenmal habe ich jetzt gefühlt, daß sie nie … nie, nie, nie mehr da sein wird … Valerie! Valerie! Warum hast du das nur …«

Manuel konnte nicht länger verstehen, was sie stammelte, während Tränen aus ihren Augen strömten. Das Brausen der nahenden Boeing war zu laut geworden. So standen sie da, seine Arme um ihren Rücken, ihr Kopf an seiner Brust. Wie ein Liebespaar sahen sie aus, wie ein tragisches Liebespaar. Manuel blickte auf die Schluchzende herab. Er dachte: Nein, diese Frau hat keine Schuld.