32
»Carl Flemming hatte sein Appartement auf der anderen Seite des Hauses«, sagte Nora Hill. »Nach dem Kriege wurde hier alles umgebaut.«
Die Frau in dem leuchtend bunten Hosenanzug erhob sich geschmeidig und schwang auf ihren Krücken behende zu dem Fernsehapparat. Sie drückte zwei Knöpfe.
»Ich zeige Ihnen einmal, wie sein früheres Arbeitszimmer heute aussieht. Muß ohnedies einmal nachschauen, was die Trauergemeinde macht.« Harmoniumspiel ertönte, während die Mattscheibe sich langsam erhellte. »Na, Gott sei Dank, alles in Ordnung, keine Nervenzusammenbrüche, keine hysterischen Anfälle.«
Manuel erblickte den großen, völlig in Schwarz gehaltenen Raum, den Nora ihm bei dem Rundgang anläßlich seines ersten Besuches kurz präsentiert hatte. Silberne Kandelaber mit hohen, brennenden Kerzen standen in diesem Zimmer, große Vasen mit weißen Lilien. An einer Seitenwand erblickte Manuel ein liebevoll aufgebautes kaltes Buffet.
Ungefähr ein Dutzend Frauen saßen auf schwarzen Stühlen. Sie trugen alle Trauer – schwarze Kleider, Schuhe, Strümpfe, lange Handschuhe, kleine Hütchen, manche mit kurzen Schleiern. Einige hatten dunkle Sonnenbrillen aufgesetzt. Schmerzerfüllt waren die Gesichter der eleganten Versammlung. Eine sehr dicke Dame saß vor einem kleinen Harmonium und ließ die erstaunlich schlanken Finger über die Tasten gleiten.
»Merci, chérie, für die Stunden, chérie«, sagte Nora Hill ernst.
»Bitte?«
»Das war sein Lieblingslied«, erklärte Nora überschattet, während die dicke Dame am Harmonium weiterspielte und eine andere Dame laut zu schluchzen begann.
»Lieblingslied von wem?« fragte Manuel.
»Von Zigaretten-Wolfi.«
»Zigaretten-Wolfi?«
»Er war bei mir angestellt. Nicht nur als Zigarettenboy. Er half den Mixern, er half in der Küche, er war unerhört fleißig. Sie haben ihn nicht mehr gesehen. Er lag schon seit ein paar Wochen in der Klinik, als Sie zum erstenmal kamen. Gestorben, der arme Kerl. Heute war das Begräbnis auf dem Hietzinger Friedhof. Georg ging hin – für mich. In diesem Schnee kann ich mich nur schwer bewegen. Georg sagt, es war unerhört feierlich. Blumen und Kränze zu Bergen. Auch einen Knabenchor gab es. Der sang: ›So nimm denn meine Hände‹ …« Nora wies auf die Mattscheibe. »Das da sind die erschütterten Hinterbliebenen. Waren alle beim Begräbnis. Jetzt gedenken sie hier noch einmal des Verblichenen.«
»Das sind nur Frauen«, sagte Manuel erstaunt.
»Das sind nur Männer«, sagte Nora.
»Wie?«
»Nur Männer. Alles anständige Transvestiten. Zigaretten-Wolfis intimste Freunde. Ich sage doch, er war unendlich fleißig. Mit einundzwanzig mußte er sterben. Schrecklich. Schweres Unterleibsleiden …«
»Das sind Männer?«
»Aber gewiß. Der am Harmonium, der Dicke, ist ›Fette Ente‹. So wird er genannt.«
»Warum?«
»Er läuft sonst immer mit grünen Filzhüten herum. Und Enteriche haben doch grüne Köpfe. Ein ausgezeichneter Gynäkologe …«
Fette Ente begann ein neues Musikstück – ›Ave Maria‹.
Das Schluchzen wurde lauter. Ein als Frau verkleideter Mann gebärdete sich wie von Sinnen. Er weinte so laut, daß er manchmal das Spiel der Fetten Ente übertönte, wand sich wie in Krämpfen und drohte zusammenzusinken. Andere Trauergäste bemühten sich zärtlich um ihn, stützten seine Schultern, streichelten sein tränenverheertes Gesicht.
»Chinchilla«, sagte Nora. »Hat Zigaretten-Wolfi am meisten geliebt. Leidet entsetzlich unter dem Verlust.«
»Chinchilla?«
»Ein sehr bekannter Pelzhändler.«
Chinchilla war nicht zu beruhigen.
»Der arme Kerl«, sagte Nora. Chinchillas Gesicht war verwüstet, Maskara und Schminke vermischten sich mit Puder.
»Oh!« rief Chinchilla, »oh, Wolfi, Wolfi, mein Wolfi …«
Die Damen, die alle Herren waren, zeigten Erschütterung.
Mit tiefer Inbrunst spielte Fette Ente weiter ›Ave Maria‹ …
»Das also war damals Carl Flemmings Arbeitszimmer in seinem Appartement«, sagte Nora, den Apparat abschaltend.
33
In Carl Flemmings Appartement gab es viele Kostbarkeiten – antike Möbel, Gobelins, Ikonen, alte Teppiche und eine große Vitrine mit einer Sammlung von chinesischem Porzellan aus der Ming-Epoche.
Der Schreibtisch besaß einen Flügel, dessen Tür durch ein Spezialschloß gesichert war. Flemming öffnete es mit einem Yale-Schlüssel und entnahm ihm eine Reihe von Dokumenten. Er schaltete die starke Lampe auf dem Schreibtisch ein und holte aus der Jackentasche eine Kleinstkamera. Neun Dokumente schob Flemming unter den hellen Lichtkegel und fotografierte sie. Er tat alles mit größter Ruhe und Gelassenheit.
Nachdem er die Dokumente fotografiert hatte, legte er sie wieder in ihre Fächer und bückte sich. Ganz unten in dem Seitenflügel lag eine kleine Schachtel. Flemming öffnete sie. Auf Watte gebettet ruhten in der Schachtel viele Glaskapseln. Flemming gab einzelne oft seinen Auslandsagenten mit. Nun wählte er eine, schloß die Schachtel und versperrte das Yale-Schloß. Die Kapsel und die Kamera steckte er ein, dann griff er zum Telefonhörer des Hausapparates und wählte eine zweistellige Nummer. Nach einer Weile meldete sich die verschlafene Stimme Carlsons.
»Tut mir leid, mein Lieber, daß ich Sie so spät noch stören muß.« Flemming sprach freundlich. »Aber es geht nicht anders. Ziehen Sie sich an. Dringender Anruf. Einer unserer Leute fliegt nach Athen. Ich muß ihm noch Akten bringen.«
»In Ordnung, Chef.« Carlsons Stimme klang unruhig.
Flemmings Gesicht war ausdruckslos, als er sagte: »Kommen sie zu mir rauf. Eine ganze Menge Akten. Auch ein paar Ordner. Sie müssen mir tragen helfen.«
»Jawohl, Chef. Ich komme, so schnell ich kann.«
»Gut«, sagte Flemming. Er legte auf, ging zu einer großen Wandbar und entnahm ihr zwei Gläser und eine Flasche Cognac. Er holte die Kapsel hervor, zerbrach sie sehr vorsichtig und ließ ihren Inhalt – feinkörniges Pulver – in ein Schwenkglas rieseln. Mit einer Schere zerkleinerte er dann ebenso vorsichtig die beiden Kapselteile weiter, bis es nur noch feine Splitter waren. Auch diese ließ er in das Glas fallen.
Er ging in sein Badezimmer, wo er sich gründlich die Hände wusch und danach auch noch die Schere, die er, in das Arbeitszimmer zurückgekehrt, wieder auf den Schreibtisch legte. Aus einem Regal nahm er einige Leitz-Ordner und stapelte sie auf einen Stuhl. Er war noch damit beschäftigt, als es klopfte.
»Herein!« rief Flemming.
Carlson, in Chauffeur-Livree, trat zögernd ein. Seine stechenden Augen verrieten große, mühsam unterdrückte Angst.
»Kommen Sie schon rein!« rief Flemming, scheinbar mit den Ordnern auf dem Stuhl beschäftigt.
Wie ein Tier, das jederzeit zur Flucht bereit ist, so trat der Chauffeur näher. Er dachte an das, was sich vor wenigen Stunden ereignet hatte. War Flemming inzwischen mit dieser Hure zusammengewesen? Hatte sie ihm trotz aller Drohungen etwas erzählt? Viel erzählt? Wenn ja, was hatte Flemming dann jetzt vor? Heiß schoß Furcht in Carlson hoch. Er beleckte die trockenen Lippen.
Flemming drehte sich um und sah ihn lächelnd an.
»So, da wäre das ganze Zeug.« Er musterte Carlson. »Was ist los mit Ihnen?«
»Nichts, Chef, nichts … Ich … Mir ist nicht ganz gut …« Carlson war sich immer noch nicht sicher.
»Nicht gut? Dann trinken wir aber einen vor der Fahrt!« Flemming ging zur Bar und goß Cognac in die beiden Gläser, welche er etwas abseits gestellt hatte. Die pulverförmige Substanz in dem einen Glas löste sich auf, Splitter der Kapsel waren nicht zu sehen.
»Sehr liebenswürdig, Chef …« Also sie hat nichts erzählt, die süße Hure, dachte Carlson. Natürlich nicht. Ist ja nicht wahnsinnig. Setzt doch nicht ihr Leben aufs Spiel. Schon alles in Ordnung. Der Alte weiß nichts. »Aber wenn ich fahren muß …«
»Was denn!« Flemming hielt Carlson ein Glas hin. »Von dem Schluck werden Sie ja nicht gleich besoffen sein! Prost!«
»Ihr Wohl, Chef«, sagte Chauffeur Albert Carlson.