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In ihrem Wohnzimmer sagte Nora Hilclass="underline" »Zur ersten Frage: Flemming gestand mir alles, als sich die Aufregung etwas gelegt hatte. Da waren wir abends wieder einmal allein. Ich fragte ihn nur ganz kurz, denn ich war meiner Sache völlig sicher. Er gab sofort alles zu.«

»Er muß großes Vertrauen gehabt haben«, sagte Manuel.

»Vertrauen!« Nora lachte. »Die Hosen hatte er schon voll, ich erzählte es Ihnen doch. Und er haßte Carlson über dessen Tod hinaus für das, was der mit mir getan hatte, denn er liebte mich doch so sehr!« Wieder lachte Nora, diesmal klang es traurig und zugleich böse. »Die Liebe«, sagte sie. »Eine Himmelsmacht eben. Ich habe übrigens niemandem bis zum heutigen Tag diese Geschichte erzählt – auch Cardiff nie.«

»Und Frau Steinfeld?«

»Frau Steinfeld? Ach so, Sie meinen, weil Flemming ja doch erklärt hatte, schweigen und ihr helfen zu wollen, wenn sie nach dem Krieg tüchtig zu seinen Gunsten aussagte?«

»Ja.«

»Nun, Frau Steinfeld teilte ich genau das mit. Und daß Flemmings Chauffeur sich vergiftet hätte. Mit einer Zyankalikapsel.«

»Warum taten Sie das? Ich nehme doch an, die Sache wurde geheimgehalten.«

»Natürlich wurde sie das. Derartige Dinge schwieg man tot. Ich sagte es Frau Steinfeld, weil sie immer noch solche Angst hatte, daß ich beobachtet würde – von dem Mann im blauen Mantel mit dem Homburg. Da meinte Flemming, es sei das beste, ihr zu erzählen, daß Carlson dieser Mann gewesen war. Und daß sie nun keine Angst mehr zu haben brauchte. Das beruhigte sie dann auch. Und sie vertraute von da an ganz mir und dem, was Flemming sagte.«

»Was sagte er denn?«

»Zunächst gab er nur Ratschläge – ich berichtete ihm dauernd alles, was sich zutrug. Aber wirklich aktiv wurde er erst, nachdem Frau Steinfeld mir berichtet hatte, die Blutgruppenuntersuchung sei negativ ausgegangen, Martin Landau könne nicht der Vater sein. Das erzählte ich Flemming sofort, hier, in diesem Raum. Ein schöner Sommerabend war das, es blieb lange hell …«

35

… und der Himmel wurde langsam, ganz langsam, blaßblau, rosa, dunkelrot im Westen. Schwarz, als Silhouetten, standen die Wipfel der hohen, alten Bäume vor den Fenstern von Noras Wohnzimmer. Die Flügel waren weit geöffnet. Nach der Hitze des Tages kam kühle Luft herein. Im Park sang eine Nachtigall.

Schweigend hatte Flemming Noras Worten über die unglückliche Wendung des Prozesses gelauscht. Er rauchte Pfeife. Lange saß er nachdenklich da, dann trat er an ein Fenster und blickte in die Dämmerung hinaus. Nora wartete geduldig.

Schließlich drehte der große Mann sich um.

»Ich sehe nur einen Weg«, sagte er, »der vielleicht – vielleicht – Erfolg haben könnte.«

»Ja?« Solange Nora Flemming kannte, empfand sie Haß und Bewunderung zugleich für diesen Mann.

»Kein leichter Weg. Auch kein sicherer. Man braucht gute Nerven, um ihn zu gehen. Die Nerven von Frau Steinfeld sind schon reichlich strapaziert, wie?«

»Reichlich. Aber um den Jungen zu retten, hält sie jede Belastung aus! Sie will nur eines: den Jungen durchbringen. Nun sag mir, was du dir überlegt hast. Woran denkst du?«

»An einen Toten«, antwortete Flemming.

»Woran?«

»Der Vater muß tot sein.«

»Ich verstehe nicht …«

»Der angebliche Vater dieses Jungen«, sagte er leise und geduldig. Süß sang eine Nachtigall im Park. »Frau Steinfeld wird hoffentlich einen Mann gekannt haben – gut gekannt, etwa wie Landau –, der schon gestorben ist. Einen Arier. Es sterben viele Leute jetzt, nicht wahr? An der Front zum Beispiel. Obwohl es andererseits vielleicht besser wäre, wenn dieser Mann schon länger nicht mehr lebte. Aber die Zeugen müßten ihn noch alle gekannt haben – oder andere Zeugen jedenfalls … ich meine: Leute, die bereit sind, vor Gericht so auszusagen wie die ersten Zeugen … Dieselben Zeugen wären die besten, versteht sich …« Er sah den Rauchwolken nach. Agenten brachten ihm aus dem neutralen Ausland englischen Pfeifentabak.

»Ein toter Vater«, sagte Nora atemlos. »Du bist großartig. Das ist die Lösung! Einen toten Mann kann man nicht mehr anthropologisch untersuchen! Von einem toten Mann kann man keine Blutgruppenuntersuchung mehr machen!«

»Ich weiß nicht, ob das Gericht ebenso begeistert sein wird wie du.«

»Ich will Frau Steinfeld sofort anrufen! Morgen gehe ich zu ihr in die Buchhandlung!«

»Ich weiß nicht einmal, ob Frau Steinfeld so begeistert sein wird, Liebling«, sagte Flemming. »Sie und ihre Freunde und Bekannten. Ob die mitmachen. Ob es überhaupt jemanden gibt, der in Frage kommt, einen passenden Toten. Und was Herr Landau sagt …«

»Den wird sie herumkriegen!« Nora suchte schon in einem Telefonbuch Valeries Anschlußnummer in der Gentzgasse. »Diese Frau kriegt alle noch einmal herum! Da ist es! B 32 4 56.« Sie begann zu wählen …

36

»Diesen Vorschlag hat dir Nora Hill gemacht?« fragte Ottilie Landau. Sie sah blaß und erschöpft aus, die etwas zu spitze Nase trat noch auffälliger hervor, die Wangen waren eingefallen, die schmalen Lippen blutleer. Ottilie Landau konnte Hitze nur schlecht ertragen, und es war unmenschlich heiß gewesen an diesem 23. Juni 1943. Selbst der Abend brachte keine Abkühlung – schon gar nicht in der Innenstadt. Die Hitze war bereits in das Teekammerl der geschlossenen Buchhandlung gedrungen und hatte sich hier festgesetzt, unbarmherzig, nicht mehr zu vertreiben, nun, da sich einmal die meterdicken Mauern erwärmt hatten. Es sind auch zu viele Menschen hier, dachte Tilly, ihr Gesicht mit einem leicht verblichenen Spitzentaschentuch abtupfend. Valerie, Martin, Agnes, ich. Wir haben kaum Platz …

»Ja. Nora Hill kam her und meinte, das sei das beste.« Valerie hatte dunkle Ringe unter den Augen, das Haar hing ihr in ein paar Strähnen herab. Nur dem alten Freund Martin hatte sie verraten, daß die Idee von Flemming stammte, daß dieser nun auf ihrer Seite stand – aus Gründen seiner Rückversicherung. »Ich finde den Vorschlag ausgezeichnet – unter den Umständen, meine ich.«

»Unter den Umständen!« Martin Landau, der in dem defekten Schaukelstuhl saß, produzierte ein jämmerliches Lachen. Er hielt seit ein paar Tagen wieder den Kopf schief und die Schulter hochgezogen, auch im Sitzen. »Unter den Umständen halte ich jeden Vorschlag für ausgezeichnet, der verhindert, daß ich wegen Meineids angeklagt werde!«

An diesem Abend fand Valerie bei Tilly Unterstützung.

»Na, darauf läuft es doch hinaus!« rief diese.

»Worauf?«

»Wenn wir dem Gericht einen neuen Vater präsentieren, bist du entlastet!«

Martin Landau hatte eine Nacht zuvor, von schrecklichen Träumen gequält, laut im Schlaf geschrien, die Wahrheit über das negative Ergebnis der Blutgruppenuntersuchung herausgestammelt. Tilly, erschrocken herbeigeeilt, hatte alles vernommen und den Bruder geweckt. Er war zusammengebrochen. Weinend gab er der Schwester zu, was dieser nie zweifelhaft erschienen war – nämlich, daß ihn keinesfalls intime Beziehungen mit Valerie verbunden hatten. Seine Worte waren von einer schweigsamen Tilly gehört worden. Nun wußte also auch sie Bescheid …

»Wieso bin ich dann entlastet?« fragte Martin Landau jetzt.

»Herrgott! Schließlich kann Valerie ihren Mann ja mit noch einem Mann betrogen haben, nicht nur mit dir!« Tilly benahm sich, als sei ihr die neue Entwicklung hochwillkommen. Dabei war sie voll Zorn zu der Buchhandlung gefahren, wohin Valerie alle gebeten hatte. Erleichtert dachte sie jetzt: Ich habe geglaubt, Valerie will uns noch tiefer hineinreißen in diesen Irrsinn, jetzt, wo es schiefgegangen ist – besonders Martin. Aber nein, sie hat ja einen Vorschlag, der die Sache von uns wegzieht!