»Natürlich kann die gnä’ Frau auch mit mehr Männern …« Die kleine Agnes Peintinger, die auf dem alten Sofa saß, brach erschrocken ab. »Bitte um Entschuldigung, gnä’ Frau! Wir wissen alle, daß es nicht so war. Aber sie muß doch weitergehen, die Geschichte, wenn wir dem Heinzi helfen wollen. Und es ist doch ein Riesenglück, daß wir so einen Toten haben, nicht?« Die Agnes sah sich strahlend um. Als sie die verschlossenen Gesichter der anderen bemerkte, wurde auch sie ernst. »Ich meine … Wir denken doch alle an denselben Herrn, nicht? Der war doch auch so oft draußen bei uns in Dornbach … sogar ein Freund vom Herrn Landau! Also, ich tät auf der Stelle schwören, daß er sich sehr gut verstanden hat mit der gnä’ Frau und daß er sie oft besucht hat, wenn der gnä’ Herr verreist war!«
»Ich würde das auch beschwören – um Martin zu helfen. Und dir, Valerie«, sagte Tilly.
»Und Frau Lippowski?« fragte Martin Landau, mit schiefem Kopf. »Immerhin. Ob die noch einmal …?«
»Ich fahre morgen zu ihr. Ich bin sicher. Jetzt, nachdem sie ihren Mann umgebracht haben – und nach dem, wie sie sich das letzte Mal benahm!« Valerie sprach schnell.
»Dann wären wir ja alle wieder zusammen«, sagte Tilly. »Was meint der Doktor Forster dazu?«
»Der hat sich das angehört, ohne eine Miene zu verziehen. Er muß doch so tun, als ob er mir alles glaubt. Aber er ist einverstanden, das hat er mir zu verstehen gegeben, indirekt. Und dann ist ja auch noch das anthropologische Gutachten gekommen.«
»Was?« rief Landau. »Wann ist es eingetroffen?«
Alle sahen Valerie an.
»Heute. Bei ihm.«
»Und? Und?« rief die Agnes.
»Vier Seiten, aus denen selbst Forster nicht schlau wird«, sagte Valerie.
»Aber dann, bei der Zusammenfassung, da steht es schwarz auf weiß!« Sie holte einen Zettel hervor. »Ich habe es wörtlich abgeschrieben.« Sie las: »›Das rassische Erscheinungsbild des Klägers‹ – also das ist der Heinz – ›läßt keinerlei Merkmale erkennen, aus denen auf eine jüdische Abstammung geschlossen werden könnte, obwohl‹ – obwohl, hört euch das an! – ›obwohl der gesetzliche Vater des Klägers auf den vorgelegten Fotografien jüdische Züge in besonders reichem Maße zeigt!‹«
Ein Schweigen folgte.
Dann sagte Landau: »Himmelarschundzwirn.«
»Martin!« rief Tilly entsetzt.
»Es ist zum Verrücktwerden! Ein erstklassiges Gutachten! Sieht aus wie ein reiner Arier, der Heinz! Wir wären durch, wir hätten den Prozeß gewonnen, wenn nur nicht diese gottverfluchte Blutgruppenbestimmung gewesen wäre.«
»Gegen die können wir nichts tun«, sagte Valerie. »Aber das Gericht muß anerkennen, was das anthropologische Gutachten sagt. Waren schließlich SS-Ärzte, die es gemacht haben! Das erleichtert alles ungemein, wenn ich nun sage, ich habe mich eben geirrt, und nicht Martin ist der Vater, sondern Ludwig Orwin.« Valerie sprach etwas langsamer, sie formulierte schon: »Ludwig Orwin, der bekannte Bildhauer, auch ein Jugendfreund von mir … Seine Werke stehen in vielen deutschen Museen, in Parks, vor öffentlichen Gebäuden … bekannter Künstler … ging bei uns ein und aus … Martin und er waren befreundet …«
»Und haben beide mit dir geschlafen«, sagte Landau trübe.
Seine Schwester sah ihn nur ironisch an, aber sie schwieg.
»Ja«, sagte Valerie, »ich habe mit euch beiden geschlafen. Ihr habt es nicht gewußt voneinander. Ich wollte eure Freundschaft nicht zerstören.«
»Ausgerechnet Ludwig Orwin. Immerhin war der wirklich mein Freund«, murmelte Martin Landau.
»Nimm dich zusammen!« Tilly fauchte ihn richtig an. »Wir haben keinen anderen!«
Die Agnes sagte bange: »Schrecklich wird das sein für die gnä’ Frau, wenn sie das dem Gericht erzählen muß.«
»Mir macht es nichts«, sagte Valerie, ohne jemanden anzusehen. »Die halten mich sowieso für den letzten Dreck.« Sie warf den Kopf zurück. »Der arme Ludwig kam schon 1934 bei dem Eisenbahnunglück vor Hamburg ums Leben! Also, das ist eine ganz unheimlich gescheite Frau, diese Nora Hill!« (Ihren Freund Carl Flemming meine ich in Wahrheit, dachte Valerie.)
»Wenn das Gericht – immerhin – diese zweite Version aber ablehnt?« fragte Landau.
»Es wird sie nicht ablehnen! Es darf sie nicht ablehnen!«
»Wunschdenken! Darf nicht! Dieser elende Nazirichter! Der darf nicht? Das möchte ich einmal sehen! Eine besondere Freude wird es für ihn sein, zu sagen, jetzt ist Schluß, weiter anlügen lasse ich mich nicht!«
»Wir haben den Doktor Forster!« sagte Valerie. »Wir haben diesen Kurator, der das erste Mal schon halb auf unserer Seite war!«
»Jetzt wird er es kaum mehr sein«, stöhnte Landau.
»Inzwischen kriegen wir mehr und mehr Prügel – an allen Fronten. Und ob er auf unserer Seite sein wird, der Feigling!« rief Valerie und überlegte: Wunschdenken, Martin hat recht, das alles wünsche ich mir nur. »Was ist los mit dir? Bisher warst du so mutig. Und nun, auf einmal …«
»Ich war nie mutig«, sagte der zierliche Mann leise. »Ich habe mich nur wahnsinnig zusammengerissen. Jetzt … jetzt komme ich mir vor wie ein Luftballon, dem die Luft ausgeht.«
»Du wirst dir noch ganz anders vorkommen, wenn du jetzt nicht mitspielst und die Partei dir auf den Hals rückt mit deinem Meineid«, sagte Tilly scharf.
Er zuckte zusammen.
»Ja«, stotterte er, »ja, das ist wahr … Ich … habe ja überhaupt keine Wahl … Ich muß weiter mitmachen …«
»Und mit Überzeugung und mit Gefühl«, sagte Tilly drohend.
Aus Angst um ihren Bruder ist sie meine Verbündete geworden, dachte Valerie.
»Also auf mich kannst du rechnen«, sagte Tilly. »Und auf den Martin auch. Den bearbeite ich schon noch, verlaß dich drauf. Wir müssen vor der nächsten Verhandlung natürlich noch alles genau besprechen.«
37
»… du kannst dir sicherlich vorstellen, wie schwer es mir fällt, das alles zu erzählen, mein Junge«, sagte Valerie, mühsam nach Worten suchend. »Aber nun hat die Untersuchung ergeben, daß Onkel Landau nicht dein Vater sein kann – also muß es Ludwig Orwin sein. Du erinnerst dich doch noch an den Onkel Ludwig? Er hat dir immer Spielzeug mitgebracht, und Märchen vorgelesen hat er dir auch, als du noch ganz klein warst …«
Heinz Steinfeld antwortete nicht. Er saß, in einem Pyjama, auf dem Rand seines Bettes und sah die nackten Füße an. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, fand Valerie, die neben ihm saß. Heinz ging stets bald nach seiner Heimkehr zu Bett – er mußte sehr früh aufstehen, um rechtzeitig in die Fabrik zu kommen.
»Erinnerst du dich nicht an den Onkel Ludwig?« Valeries Stimme klang drängend.
»Doch, doch, ich erinnere mich an ihn«, sagte Heinz, ohne aufzublicken.
»Du mußt gar keine Angst haben! Wir werden den Prozeß weiterführen, ich werde das, was ich dir erzählt habe …«
»Dem Gericht erzählen.« Es klang harmlos, doch sie sah ihn gespannt an. Er wich ihrem Blick hartnäckig aus.
»Dem Gericht erzählen, natürlich!« Valerie griff sich an den Hals. »Onkel Martin ist so vor den Kopf gestoßen wie du, seit ich ihm gesagt habe, daß ich auch mit … mit Onkel Ludwig … Aber du weißt nicht, wie meine Ehe war, Heinz … Niemand weiß das wirklich … eine Hölle, ja, eine Hölle!«
»Du mußt nicht so schreien, Mami«, sagte Heinz. Jetzt betrachtete er seine Fingernägel. »Und dich nicht so aufregen.«
»Natürlich muß ich das!« Valerie hatte das Gefühl, daß sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen würde. Aber ach, dachte sie, ich kann ja nicht mehr weinen. Ich wünschte, ich könnte es noch, so wie früher. Ich habe das Weinen verlernt. »Onkel Martin und Onkel Ludwig … Die besten Freunde waren sie … Und ich habe sie beide hintergangen …«