Valerie fragte ernst: »Ist das bei einem Luftangriff passiert?«
»Nein, bei einer anderen Gelegenheit.«
»Schrecklich.«
»Es gibt viel Schlimmeres«, sagte Nora, sich umsehend. Alles war noch genauso, wie sie es in Erinnerung hatte. Der rostige Gasrechaud. Das Spülbecken mit dem verfärbten, abgesplitterten Emaille. Das angeschlagene Geschirr. Der halbblinde Spiegel. Die alte Remington, in der ein Bogen schlechtes Papier steckte. Das alte Sofa. Der große Radioapparat. Die vielen Talismane auf dem vollgeräumten Schreibtisch.
Nora griff in ihre Manteltasche.
»Ich bringe Ihnen etwas mit, Frau Steinfeld! Sie werden es sicherlich schon vermißt haben!«
Nora legte das kleine Reh aus Blei auf den Schreibtisch. Valerie betrachtete es ohne Ausdruck. Sie sagte kein Wort.
Es irritierte Nora, daß Valerie nur sprach, wenn man sie etwas fragte. »Und Ihnen?« fragte sie. »Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Es war eine schwere Zeit«, sagte Valerie mit jener modulationslosen Stimme. »Nun ist sie vorüber …« Die Daumen der im Schoß verschränkten Hände bewegten sich umeinander.
»Der Prozeß! Ihr Junge! Was ist mit ihm? Wir haben uns so lange nicht gesehen, Frau Steinfeld! Nun reden Sie doch!«
Valerie antwortete leise: »Heinz ist nicht mehr da.«
Nora erschrak.
»Ist er …«
»Nein, er ist nicht tot, Fräulein Hill«, antwortete Valerie, die aussah und dasaß und redete wie eine Wachsfigur mit eingebauter Sprechwalze. »Er lebt. In Los Angeles.«
»Wie kommt er nach Amerika?«
»Er hat eine Einladung erhalten, dort zu studieren. Sie erinnern sich doch, daß er Chemiker werden wollte, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Wann ist er …«
»Schon vor einem Jahr hat er mich verlassen. Wir hatten nur noch Streit, wissen Sie.« Valerie sah Nora während des ganzen Gesprächs kein einziges Mal direkt an, sie blickte immer an ihr vorbei. Und die Daumen der Finger drehten sich unablässig.
»Streit? Weshalb?«
»Ich bin schuld. Ich habe ihn zu streng behandelt. Dieser Prozeß hat mich so hart gemacht. Ich bin nicht mehr die Frau, die Sie in Erinnerung haben. Heinz hielt es nicht mehr aus bei mir. Ein guter Junge. Ich habe Fehler gemacht, schwere Fehler. Ich sehe es ein. Es hat mich natürlich trotzdem sehr getroffen, daß mein Mann sich hat scheiden lassen.«
»Ihr Mann hat …«
»Ja, Fräulein Hill. Gleich nach Kriegsende. Er ist inzwischen längst wieder verheiratet – in London. Eine junge Frau … jünger als ich. Er hat sie während des Krieges kennengelernt. Es geht ihm gut. Manchmal schreibt er mir. Ich darf ihm nicht böse sein. Eine so lange Trennung, nicht wahr?«
»Aber …«
»Doch, doch. Die Zeit! Der Krieg hätte nicht so lange dauern dürfen. Sie haben ja auch nicht den Mann geheiratet, den Sie liebten.«
»Woher wissen Sie …«
»Wären Sie sonst hier? Er hat Sie verlassen, stimmt’s?«
Nora Hill nickte.
»Die Männer verlassen die Frauen. Die Frauen verlassen die Männer. Einer verläßt immer den andern. Früher oder später.«
»Großer Gott, Frau Steinfeld, das ist … das ist …«
»Ja, bitte?«
»Nach allem, was Sie mitgemacht haben – für seinen Sohn, auch für ihn! Und da läßt er sich scheiden!«
»Wenn er doch eine andere liebt«, sagte Valerie. Sie wandte plötzlich den Kopf, sah das kleine Reh an und nahm das Stückchen Blei in die Hand. Nachdem sie es kurz betrachtet hatte, legte sie es mit einem irren Lächeln wieder fort und verschränkte die Finger im Schoß. »Paul weiß bestimmt überhaupt nicht mehr, wie ich aussehe.«
»Aber der Prozeß! Wie kann Ihr Sohn Sie verlassen, wie kann Ihr Mann sich scheiden lassen nach einem solchen Prozeß?« rief Nora.
Schneller drehten sich die Daumen Valeries.
»Der Prozeß«, sagte sie. »Der wurde nie zu Ende geführt, der lief bei Kriegsende noch … Jetzt ist das ja alles vorbei und unwichtig und uninteressant … Wollen Sie eine Tasse Tee?«
»Wirklich, Frau Steinfeld …«
»Nein, nein!« Valerie sprang auf. Sie öffnete ein Wandschränkchen. »Vom Schwarzen Markt! Echter russischer! Wird Ihnen schmecken, Fräulein Hill. Zucker haben wir auch wieder, richtigen, nicht diesen widerlichen Süßstoff. Es ist doch Frieden, nicht?«
»Wie bitte?«
Valerie drehte sich um. Jetzt sah sie Nora zum erstenmal an. In ihren Augen stand ein Ausdruck von panischer Furcht. Sie wiederholte bebend: »Frieden ist jetzt. Das stimmt doch. Nicht wahr, das stimmt doch. Oder nicht?«
52
»Unheimlich«, sagte Manuel Aranda.
»Ja, unheimlich war dieser ganze Besuch«, antwortete Nora Hill.
Aus der Halle, wo man sich drollige Anekdoten über den Beischlaf erzählte, klang wieder Gelächter in das Wohnzimmer. »Ich trank Tee mit ihr. Landau kam dazu. Er redete kaum ein Wort. Wir saßen da und schwiegen uns an.«
»Hatten Sie das Gefühl, daß Frau Steinfeld geistesgestört war?«
»Nicht geistesgestört. Verwirrt. Das war auch Landau. Nicht so sehr. Schließlich, sagte ich mir, hatte die Frau ein schweres Los getroffen. Beim Abschied luden sie mich ein, wiederzukommen. Ich lud sie zu mir ein. Aber ich bin sicher, sie fühlten dasselbe wie ich: Das waren reine Höflichkeiten. Im Grunde war ich den beiden völlig fremd, ja unangenehm geworden. Und um ehrlich zu sein: Mir ging es ebenso. Sie meldeten sich auch niemals. Und ich kehrte nie mehr in die Buchhandlung zurück.«
»Das heißt, damals sahen Sie die beiden zum letztenmal?«
»Ja, Herr Aranda, das heißt es.« Nora Hill lächelte und zeigte die schönen Zähne. »Damit bin ich am Ende meiner Geschichte.«
»Aber es ist nicht das Ende meiner Geschichte! Ich sehe noch immer nicht die Wahrheit!«
»Natürlich nicht. Sie müssen noch einmal mit Doktor Forster reden. Und dann kommt doch dieser Daniel Steinfeld, Paul Steinfelds Bruder, haben Sie mir erzählt. Der wird gewiß auch etwas zu berichten haben. Wann trifft er ein?«
»Montag.«
»Nun, lassen Sie sich Zeit, lieber Freund.« Wieder das Gelächter aus der Halle. »Wie die sich amüsieren! Wenn Sie die Wahrheit wirklich kennen, dann halten Sie aber auch Ihr Versprechen und kommen zu mir, damit ich meinen kleinen Wunsch äußern kann. Sie wissen doch noch – das war die Voraussetzung, unter der ich zu erzählen begann und Sie auf die richtige Spur führte!«
»Ich weiß«, sagte Manuel.
»Sie werden bestimmt kommen?«
»Bestimmt, Madame …«
»Das geht doch wundervoll«, sagte Grant in dem Kleinmädchenzimmer. Diesmal lag er auf dem Bett, und Santarin saß auf einem kleinen Stuhl. »Genauso wie Sie es sich vorgestellt haben, Fedor.«
»Sie sollen dann meinen Wunsch erfüllen – Sie müssen nicht. Niemand kann Sie zwingen«, klang Nora Hills Stimme aus dem Lautsprecher über dem Bett.
»Madame, was ich tun kann, will ich gerne tun, sobald ich wirklich alles weiß«, antwortete Manuels Stimme.
»Was er tun kann, will er gerne tun!« Grant sah Santarin strahlend an. »Wir wollen es hoffen«, sagte der Russe. »Sie haben das Nötige veranlaßt, Gilbert?«
»Natürlich, Fedor«, sagte der Amerikaner.
53
Es schneite in großen Flocken, als Manuel am Sonntag, dem 26. Januar 1969, pünktlich um halb elf Uhr vormittags am Gartentor der Villa in der Sternwartestraße läutete. Ein Summer ertönte, das Tor sprang auf. Manuel ging über den verwehten Kiesweg auf das Haus zu, dessen Eingangstür sich öffnete.
Anna, Forsters dicke, rundgesichtige Haushälterin, wurde sichtbar. Sie trug ihr schwarzes Kleid, aber nicht ihre weiße Schürze.
»Ja …?« Anna machte einen vollkommen verstörten Eindruck. »Sie wünschen?«
»Ich bin Manuel Aranda. Sie kennen mich doch! Herr Doktor Forster erwartet mich. Guten Morgen, Frau Anna.«
Die Frau brach in Tränen aus.
»Frau Anna! Ist etwas geschehen?«
»Der alte gnädige Herr …«
»Was ist mit ihm?«