»Tot ist er!« rief die Anna.
Manuel trat einen Schritt zurück.
»Aber … Ich war doch gestern nachmittag bei ihm … Da ging es ihm glänzend … Er freute sich so auf seine große Reise … Er wollte doch auf die Bahamas …«
»Das ist es ja«, schluchzte die Haushälterin. »Das ist es ja, sagt der Arzt. Er muß sich zu sehr aufgeregt haben. Sein Blutdruck … das Herz … Er war doch nicht gesund … Die Freude hat ihn umgebracht, die zu große Freude …«
»Wie ist es geschehen?« fragte Manuel, den seit langer Zeit wieder jenes jähe Schwindelgefühl packte.
»In der Nacht … im Schlaf … Das Herz ist einfach stehengeblieben … Er kann es gar nicht bemerkt haben … Heute früh, als er nicht zum Frühstück kam, habe ich bei ihm geklopft und dann in sein Schlafzimmer gesehen … Er hat ganz friedlich im Bett gelegen … und gelächelt hat er … glücklich gelächelt …«
54
»Haben Sie Ludwig Orwin oft gesehen, Zeugin Peintinger?«
»No freilich, Herr Direktor, immer wieder. Der Herr Orwin, Gott hab ihn selig, ist doch dauernd zur gnä’ Frau gekommen, wenn der gnä’ Herr verreist war oder nicht zu Haus.«
»Der gnä’ Herr, das ist Paul Steinfeld?«
»Wer denn sonst?«
»Unterlassen Sie diesen Ton, Zeugin. Was haben Sie überhaupt? Warum reden Sie so laut? Warum sind Sie so rot im Gesicht? Ist Ihnen nicht gut?«
»Mir ist ganz gut, Herr Direktor«, sagte die Agnes Peintinger. Die resolute Frau mit dem breiten Bäuerinnengesicht und der Entennase, dem großen Mund und den kleinen Augen stand in einem grauen Kostüm vor dem Tisch des Landgerichtsdirektors Dr. Engelbert Arnold. Von Zeit zu Zeit schwankte sie, kaum merklich. Und sie sprach tatsächlich sehr laut. Es war der Vormittag des 10. November 1943, ein trüber Herbsttag. Im Saal 29 des Justizpalastes führte Richter Arnold die von ihm anberaumte neue Verhandlung durch. Hermine Lippowski und Ottilie Landau waren bereits vernommen und vereidigt worden. Sie saßen vor der Barriere zum Zuhörerraum, der auch heute leer war. Die beiden Frauen hatten ausgesagt, daß ihnen Valerie Steinfelds Freundschaft zu dem 1934 verstorbenen Bildhauer Ludwig Orwin bekannt gewesen sei und daß Valerie Steinfeld ihnen erzählt habe, Martin Landau und Ludwig Orwin seien um ihretwegen in einen heftigen Eifersuchtsstreit geraten, der diese Freundschaft beendete.
Kurator Kummer stellte kaum Fragen. Sein erster Eindruck war schon richtig gewesen! Dieser Kollege Forster scheute vor nichts zurück. Eine ausgeklügelte Operation mit dem Ziel, den Jungen trotz der negativen Blutgruppenuntersuchung zum Arier durchzupauken. Und sie würde Erfolg haben, Kummer fühlte das. Also halt den Mund, Hubert, ermahnte er sich, denk an die Zukunft.
Ähnlichen Gedanken hing auch der Vorsitzende, der rosige, rundliche Landgerichtsdirektor Dr. Engelbert Arnold, nach. Immer wieder mußte er an den Besuch dieses Ministerialrats Klever, dieses Piefkes aus Berlin, denken. Allein, die Zeugin, die da vor ihm stand, machte ihn von Sekunde zu Sekunde nervöser.
»Herr Landau kam aber auch zu Besuch, wenn Frau Steinfeld allein war?«
»Beide sind sie gekommen. Nicht auf einmal, natürlich. Abwechselnd«, trompetete die Agnes. Ihre Augen schwammen ein wenig.
»Wer kam öfter?«
»Das weiß ich nicht mehr. Der Herr Orwin. Nein, der Herr Landau. Nein, der Herr Orwin.«
»Zeugin!«
»Von welcher Zeit reden Sie denn, Herr Direktor?«
»Vom Sommer 1925.«
»Da ist der Herr Landau öfter gekommen. Aber der Herr Orwin war auch da, immer wieder, das weiß ich genau!«
»Was geschah, wenn der Herr Orwin zu Besuch kam?«
»Dasselbe, was geschah, wenn der Herr Landau gekommen ist.«
»Nämlich?«
»Herr Direktor, das können Sie sich doch denken!«
Arnold nahm sich enorm zusammen.
»Sie sollen meine Frage beantworten, Zeugin Peintinger!«
»Da kann ich Ihnen nur sagen, was ich glaube, daß geschehen ist!«
»Sie sollen nicht sagen, was Sie glauben, sondern was Sie wissen, verstanden?«
»Ja, Herr Direktor!«
»Warum benimmt sie sich bloß derartig?« flüsterte Forster Valerie zu. »Wenn sie sich weiter so aufführt, können wir in Schwierigkeiten kommen. Die Frau war doch sonst immer vernünftig …«
Unterdessen hatte Arnold gefragt: »Also, was wissen Sie?«
»Ich weiß, daß die gnä’ Frau mich jedesmal weggeschickt hat, wenn der Herr Orwin oder der Herr Landau gekommen ist! Sie hat gesagt, sie macht selber den Kaffee. Dabei wäre das doch meine Sache gewesen, nicht, Herr Direktor? Aber nein, ich hab fort müssen, egal, ob es geregnet hat oder ob es schön war. Wenn es schön war, bin ich spazierengegangen bis zur Waldmeierei und hab da stundenlang gesessen …«
»Stundenlang?«
»Die gnä’ Frau hat gesagt, ich soll drei oder vier Stunden wegbleiben.« Die Agnes wurde sehr laut. »Bei Sonne war das ja in Ordnung. Aber bei Kälte oder Regen! Ist mir nur ein Kino geblieben. Wissen Sie, wie weit weg das erste Kino von uns draußen war? Das Bioskop-Zentral? Und die haben ja nicht andauernd das Programm gewechselt, nicht? Und dann hat es ein paar Tage hintereinander geregnet. So habe ich manche Filme zweimal gesehen …«
»Wollen Sie sich über das Gericht lustig machen?«
»Gott soll mich davor bewahren, Herr Direktor. Wie kommen S’ bloß auf so eine Idee?«
»Himmel!« flüsterte Valerie. »Sie hat getrunken!«
»Was?« Forster war entsetzt.
»Ich erkenne das an ihrem Herumgerede. Eine schwere Zunge hat sie auch. Heute früh hat sie getrunken, vor Aufregung wahrscheinlich. Ich bin ganz sicher …«
»Fein«, sagte Forster grimmig und leise.
»Was war, wenn Sie von Ihren Ausflügen heimkamen, Zeugin? Beantworten Sie nur meine Frage, haben Sie mich verstanden?«
»Natürlich habe ich Sie verstanden, Herr Direktor. Also, wenn ich nach Hause gekommen bin, dann war die gnä’ Frau …« Die Agnes wandte den Kopf, schwankte dabei heftiger und sah mit leicht glasigen Augen Valerie an. »Entschuldigen, gnä’ Frau, aber ich muß doch hier die Wahrheit sagen …«
»Zeugin Peintinger, zum letztenmal! Sehen Sie mich an, wenn Sie sprechen, lassen Sie diese Nebenbemerkungen!«
»Zu Befehl, Herr Direktor. Die gnä’ Frau war dann oft im Morgenmantel.
»Im Morgenmantel?«
»Morgenmantel und Unterwäsche. Und zweimal bin ich in das Schlafzimmer gekommen, da war das Bett ganz zerwühlt. Die gnä’ Frau hat gesagt, ihr war nicht gut, sie hat sich hinlegen müssen.«
»Zeugin, ist das auch wirklich wahr?«
»Die heilige Wahrheit, Herr Direktor!« Die Agnes schluckte. »Sehen Sie, ich verehr die gnä’ Frau, wirklich, sie ist die beste gnä’ Frau, die es gibt. Aber eben der Trieb …«
Valerie starrt die Agnes mit offenem Mund an.
Forster zupfte an seinem Ohr, als wollte er es abreißen.
»Was für ein Trieb, Zeugin?«
»Herr Direktor verstehen schon!« Die Agnes tat verschämt. »Die arme Gnädige. Sie kann ja nichts dafür.«
»Wofür?«
»No, für ihre Veranlagung. Mir, Herr Direktor, tun alle Frauen leid, die eine solche Veranlagung haben, daß sie das so brauchen …«
»Zeugin!«
»… aber was sollen sie machen? Der Trieb ist stärker! Ich, Herr Direktor, ich bin ja so froh, daß mich das in meinem Leben nie belastet hat. Das kann ich meinem Schöpfer verdanken!« Die Agnes war wieder sehr laut geworden.
»Zeugin, schreien Sie hier nicht so!« Richter Arnold atmete heftig.
»Wollen Sie damit sagen, daß Ihre Brotgeberin nymphomanische Züge aufwies?«
»Was für Züge?«
»Daß sie andauernd Männerbekanntschaften suchte und fand?«
»Andauernd nicht. Aber das, was ich erlebt hab, das war doch schon ganz schön, nicht? Der gnä’ Herr, und der Herr Landau, und der Herr Orwin …« Wieder sah die Agnes zu Valerie. »Bitt um Vergebung, gnä’ Frau, aber die Wahrheit muß heraus, nicht?«
»Ja, die muß heraus«, rief Landgerichtsdirektor Arnold. Jetzt hatte er genug von dieser Zeugin. Wenn es stimmte, was dieses offenbar geistig beschränkte Wesen hier bekanntgab, dann konnte man tatsächlich nicht sagen, wer der Vater dieses Jungen war – der Gatte oder der Liebhaber Orwin oder noch ein anderer Mann … Da taten sich ja Abgründe auf! »Zeugin Peintinger, Sie sind bereit, diese Aussage auf Ihren Eid zu nehmen?«