»Sie legen sich mit diesem Kratochwil an, Herr Doktor!« rief Valerie. »Einen SS-Sturmbannführer!«
»Natürlich. Ich lege mich mit allen an«, sagte Forster ernst. »Sie auch, gnädige Frau. Schon seit wir diesen Prozeß begonnen haben. Merken Sie das erst jetzt? … Dieser Forderung«, sprach er weiter in sein Diktaphon, »trägt das vorliegende Sachverständigengutachten, dem das angefochtene Urteil unter gänzlichen Verzicht auf eigene Gedankengänge …«
»Herr Doktor, um Himmels willen, Sie gehen zu weit!«
»Jetzt können wir gar nicht weit genug gehen, gnädige Frau … Gedankengänge kritiklos folgt, keine Rechnung. Unvollständig, unlogisch sowie einer vernünftigen Begründung ermangelnd erscheinen insbesondere nachstehende Ausführungen des Gutachtens: Der Sachverständige sieht in den – Gedankenstrich – durchwegs kleinformatigen – Gedankenstrich – Amateuraufnahmen des gesetzlichen Vaters eine für seine Untersuchungen brauchbare Vergleichsbasis, während er mehr als ein Dutzend große, deutliche Porträtaufnahmen des angeblichen Vaters Ludwig Orwin als – in Anführungsstrichen – ›wenig verwendbar‹ abtut …«
»Herr Doktor, ich habe solche Angst …«
»Das Recht ist doch auf Ihrer Seite. Es wird siegen!« sagte Forster völlig ernst und würdig. Er diktierte weiter: »In Punkt vier seiner abschließenden Folgerungen muß der Sachverständige zugeben, daß der Kläger keinerlei Merkmale zeigt, die auf eine jüdische Abstammung schließen lassen, jedoch will er mit dieser Feststellung nicht die Vaterschaft des gesetzlichen jüdischen Vaters ausschließen. Schon dies hätte einer plausiblen Erklärung bedurft, die das Gutachten, das sich mit einer solchen apodiktischen Behauptung begnügt, indessen vermissen läßt … Einverstanden, gnädige Frau?«
»Natürlich. Aber was wird das für Folgen haben?«
»Das werden wir ja sehen.« Forster verzog keine Miene. »Herr Kratochwil hat sich beklagenswert angreifbar ausgedrückt. Weiter …« Forster überlegte kurz. »Ad b«, fuhr er dann fort. »Auf die Frage des Klagevertreters mußte der Sachverständige zugeben, daß er sein Gutachten hätte besser fundieren können, wenn auch Gelegenheit zur anthropologisch-erbbiologischen Untersuchung des gesetzlichen Vaters bestanden hätte … Jetzt kommt es, gnädige Frau! … Wenn auf Grund dieses Zugeständnisses der Klagevertreter den Auftrag gestellt hat, mit der Entscheidung in der Sache zuzuwarten, bis sich nach dem Endsieg die Gelegenheit ergeben würde, Paul Israel Steinfeld zu einer solchen Untersuchung stellig zu machen, konnte der Herr Erstrichter über diesen Antrag nicht hinweggehen, ohne das Verfahren an einem schweren Mangel leiden zu lassen.«
»Wie Sie das vor Gericht gesagt haben, das mit der Untersuchung nach dem Endsieg, da habe ich geglaubt, ich werde ohnmächtig«, erklärte Valerie.
»Ich stellte doch nur einen absolut logischen Antrag«, meinte Forster, scheinbar erstaunt. Er beherrschte sich völlig. Ernst fuhr er im Diktat fort: »Die Tatsache, daß es nicht möglich ist, einen begründet beantragten Beweis innerhalb einer bestimmten Frist durchzuführen, darf, besonders in Fällen, in denen weit mehr als nur private Interessen auf dem Spiele stehen, nicht dazu führen, daß sich der Richter über dieses oft – und in diesem Fall gewiß – prozeßentscheidende Faktum einfach hinwegsetzt.« Auf einmal fühlte Valerie neue Hoffnung, neuen Mut.
Forster bemerkte es.
»Nun, geht es Ihnen schon besser?«
Valerie konnte nur nicken.
»So ist es recht«, sagte Forster. »Wir werden dem Recht zum Sieg verhelfen. Seien Sie ganz ohne Sorge …« Er diktierte: »Besonders kraß erscheint der hier gerügte Verfahrensmangel im Lichte der vom Herrn Erstrichter spontan …« Forster blätterte in den Akten und sprach weiter: »… Klammer, Protokoll c. z. 30, Seite 5 Mitte, Klammer zu, spontan vorgenommenen Feststellung, daß der Kläger jüdische Merkmale nicht aufweist und daß auch im Gespräch mit ihm nichts darauf hindeutet, was man als jüdisch bezeichnen könnte …« Der Anwalt hielt das Mikrophon zu: »Gott sei Dank war der Richter ein sehr vorsichtiger Mensch …« (Mein Freund Klever hat ihn dazu gemacht, dachte er.)
»Der Kurator hielt sich auch sehr zurück, nicht?«
»Danke für den Hinweis!« Forster diktierte: »Wie erheblich die von der Revision gerügten Verfahrensmängel sein müssen, geht schließlich daraus hervor, daß selbst der Herr Kurator, der zu dem Kläger prozessual doch eine kontradiktorische Stellung einnehmen muß, im Bewußtsein seiner Verpflichtung, an der Wahrheitsfindung mitzuwirken … äh … sich den vom Klagevertreter gestellten Beweisanträgen stets angeschlossen hat …«
Valerie sagte sehr leise: »In Ihrem Beruf kann man aber einfach auch alles machen!«
»Alles?« sagte Forster. »Leider nein. Aber doch eine ganze Menge … Käme Ad zwei: Unrichtige rechtliche Beurteilung … Der Irrtum des Herrn Erstrichters liegt darin, daß er den Charakter des vorliegenden Rechtsstreites verkennt oder ihm nicht Rechnung trägt. Wenn auch in das Gewand eines Zivilprozesses mit weitestem Spielraum für den Willen der Parteien gekleidet, ist dieses Verfahren doch unbedingt offizieller Art …«
»Wunderbar!« rief Valerie.
Forster lächelte ihr zu, während er sprach: »In einem normalen Zivilprozeß wird der Richter zweifellos, wenn eine Partei ihr Vorbringen nicht genügend erhärtet hat und auch nicht in der Lage oder willens ist, weitere Beweise zur Präzisierung ihres Standpunktes zu beantragen, mit der Entscheidung zuungunsten dieser Partei vorgehen müssen … In einem Rechtsstreit, in dem die subjektiv aus privaten Interessen verfolgten Belange jedoch auch von eminenter öffentlich-rechtlicher Wichtigkeit sind …«
»Das ist das Beste! Das Allerbeste!« rief Valerie.
»… muß der Richter den Fall von einem anderen Gesichtspunkt betrachten, nämlich von dem der unbedingten Erforschung der objektiven Wahrheit, selbst ohne oder gar gegen etwaige Anträge der Parteien … Augenblick, erschrecken Sie nicht, das muß auch sein … Die Gerichte stehen klägerischen Vorbringen in Prozessen wie diesem begreiflicherweise vorsichtig, ja sogar mit einem gewissen Mißtrauen gegenüber … Dies aus dem Gedankengang, daß es unbedingt gegen das öffentliche Interesse wäre, wenn etwa durch eine zu laxe Beurteilung des Prozeßmaterials Abstammungsbewerbern zu Unrecht eine ihnen nicht gebührende günstigere rassische Einordnung zuerkannt würde …«
»Das ist schon dreimal herumgedreht!« flüsterte Valerie, zwischen Furcht und Optimismus schwankend.
»Ob angesichts des Umstandes«, fuhr Forster unerschütterlich fort, »daß auch der beste Richter Irrtümern unterworfen bleibt, es als ein größeres Übel zu betrachten ist, wenn eine günstigere rassische Entscheidung zu Unrecht erfolgt, oder ob es ein größeres Übel ist, einem tatsächlich reinblütigen Abstammungsbewerber wegen der Beweisschwierigkeiten, auf die er trifft, die Zuerkennung seiner Deutschblütigkeit zu versagen, muß der Erwägung des Reichsgerichtes mit allem Nachdruck anheimgestellt werden …«
57
Erschöpft, mit bleiernen Gliedern wie jeden Abend, stieg Heinz Steinfeld gegen 19 Uhr am 11. September 1944 an der Haltestelle Währingerstraße-Martinstraße aus dem 41er und ging das kurze Stück bis zur Gentzgasse hinüber. Seit einer Stunde war für Wien Voralarm gegeben, die Sirenen hatten geheult, aber die Bomber flogen nicht weiter auf die Stadt zu. Sie kreisten über verschiedenen Punkten.
Der Herbst kam früh in diesem Jahr, es dämmerte schon stark, und ein kühler Wind wehte. Heinz trug ausgebeulte Hosen, eine fleckige Jacke und seine alte Aktentasche, in der er einen Thermos und seine Frühstücksbrote beförderte. Er ging mit den schlurfenden Schritten und vorgeneigten Schultern eines Arbeiters. Als er die Wohnungstür aufsperrte, hörte er aus dem großen Mittelzimmer Stimmen. Er ging weiter, trat ein und sah seine Mutter, die Geschwister Landau und die Agnes. Bei seinem Anblick verstummten sie alle. Und alle sahen ihn an.