Im Radio, einem sogenannten ›Volksempfänger‹, tickte die Uhr des Luftschutzsenders.
»Guten Abend«, sagte Heinz.
Sofort darauf war er von Menschen umringt, die ihn umarmten und an sich drückten. Seine Mutter und die Agnes küßten ihn.
»Mein Bub«, sagte Valerie, »mein Bub …«
»Was ist denn hier los?« Heinz war plötzlich ganz munter. »Ist was aus Leipzig gekommen?«
Seine Mutter hielt ihm ein Blatt Papier hin.
»Ja, Heinz, ja! Der Doktor Burkhardt hat geschrieben.« Dr. Burkhardt war ein Anwalt in Leipzig, den Forster bei Einreichung des Revisionsbegehrens gebeten hatte, ihn zu vertreten. Valeries Stimme klang unsicher, sie machte dauernd kleine Pausen beim Sprechen. Ihre Augen leuchteten. »Und hier!« Sie hielt dem Sohn ein zweites Papier hin. »Vom Reichsgericht.«
»Die Entscheidung?« fragte Heinz.
»Ja!« rief Martin Landau. »Die Entscheidung ist da!«
»Und?«
Tilly Landau sagte: »Du siehst doch – einen Kuchen hat die Agnes gebacken, wir haben zwei Flaschen Wein mitgebracht! Heute müssen wir feiern!«
»Also hat das Reichsgericht …« Heinz stockte.
»Ja«, sagte Valerie mit bebender Stimme. »Das Reichsgericht hat das Wiener Urteil verworfen. Die fünf Richter des Leipziger Senats haben ein neues Urteil gefällt. Danach bist du Arier. Wir haben den Prozeß gewonnen!«
»Heinzi!« rief die Agnes. »Heinzi! Ist das nicht herrlich?«
Der magere Junge mit den Sommersprossen auf der blassen Haut des schmalen, erschöpften Gesichts antwortete nicht. Sein Blick ging plötzlich durch die Menschen vor ihm hindurch, weit, weit fort in die Ferne. Die Uhr des Luftschutzsenders tickte monoton. Ohne jemanden anzusehen, sagte Heinz mit ruhiger Stimme: »Endlich.«
Landau hatte eine Weinflasche entkorkt und Gläser gefüllt. Er reichte sie ringsum.
»Jetzt wollen wir auf den glücklichen Ausgang trinken!« sagte Martin Landau. Valerie betrachtete ihren Sohn ernst. Der war gar nicht richtig anwesend, fand sie. Alle stießen die Gläser gegeneinander und tranken einander zu.
Die Uhren des Luftschutzbefehlsstandes verstummte. Eine Männerstimme meldete sich: »Achtung, Achtung. Die feindlichen Bomberverbände sind aus den Bereichen 23, 24 und 45 ausgeflogen und haben den Großraum Wien verlassen. Sie fliegen mit Nordkurs weiter nach Prag. Für Wien wird Entwarnung gegeben.«
In die letzten Worte hinein heulten schon die Sirenen – einen langgezogenen Dauerton.
Heinz sagte, und jetzt lächelte er: »Lange genug hat es gedauert. Nun wird es sehr schnell gehen.«
»Was, Heinzi?« fragte die Agnes.
»Meine Einberufung«, sagte der Junge. »Gemustert bin ich schon lange. Damals haben sie mich zurückgestellt. Nicht zur Verwendung! Damit ist es vorbei!« Er lachte glücklich. Er sah niemanden an, und deshalb bemerkte er nicht, wie die Erwachsenen ihn anstarrten, erschrocken, entsetzt, von neuer Angst gepackt. Er sagte: »Ich warte aber nicht, bis sie mich holen. Morgen schon melde ich mich freiwillig – zur Waffen-SS!« Ein Glas fiel auf den Boden und zerbrach. Valerie hatte es fallen lassen. Sie sank in einen Sessel, während aus dem Radio eine andere Männerstimme ertönte: »Hier ist der Reichssender Wien. Wir setzen unser Unterhaltungskonzert fort. Sie hören einen bunten Melodienreigen von Paul Lincke, Walter Kollo und Nico Dostal …«
Ein Walzer erklang.
»Wo willst du dich freiwillig melden?« fragte Martin Landau mit krächzender Stimme.
»Bei der Waffen-SS! Ich will in einen Elite-Verband!« sagte Heinz, unvermittelt scharf. »Jetzt geht es um alles bei uns, das ist euch doch klar. Jeder muß sein Äußerstes geben. Die Waffen-SS – das war schon immer mein Traum. Hast du etwas dagegen, Onkel Martin?«
»Ich? Aber wieso? Ich dachte nur …«
»Na also«, sagte Heinz. »Ich danke dir noch einmal für alles, Mami.«
Valerie gab keine Antwort. Sie starrte auf die Scherben des zerbrochenen Glases und den Wein, der in den Teppich sickerte.
»Jesus, Maria und Josef«, stammelte die Agnes und bekreuzigte sich.
58
»Waffen-SS!« sagte Manuel Aranda entsetzt.
Tilly Landau nickte.
»Mit dem Buben war nicht mehr zu reden. Kaum, daß wir ein paar Worte sagten, da fing er schon an zu schreien und zu toben. Nein, nichts zu machen. Wir gingen bald fort, mein Bruder und ich …«
»Wie reagierte Frau Steinfeld?« fragte Manuel.
»Sie hatte große Auseinandersetzungen mit dem Buben in den nächsten Tagen. Streit! Streit! Streit! Das war die Zeit, in der die beiden sich auseinanderlebten, damals begann das Zerwürfnis.« Tilly schlürfte ihre heiße Schokolade. »Er setzte seinen Willen durch. Schon Ende September erhielt er den Gestellungsbefehl. Er verbat sich, daß ihn jemand zur Bahn begleitete – sein Ausbildungslager war irgendwo bei Preßburg. Valerie stand am Rande eines totalen Zusammenbruchs. Sie hatte ganz zum Schluß noch einen Riesenkrach mit dem Sohn gehabt, sie waren im Bösen auseinandergegangen …«
»Und was geschah mit dem Jungen?«
»Nach der Ausbildung schickten sie ihn sofort an die Front. Ungarn.« Manuel fragte leise: »Und verlor er das Leben – noch in diesen letzten Monaten?«
Tilly sah erstaunt auf.
»Das Leben? Nein. Wieso?« Sie zuckte die Schultern. »Natürlich, die Gefahr war sehr groß. Sie können sich nicht vorstellen, wie Valerie damals litt. Heinz schrieb kaum, und zuletzt gingen seine wenigen Briefe auch noch verloren … Nein, nein, er hatte Glück, er kam durch, er entging sogar der Gefangenschaft. Seine Einheit wurde plötzlich nach Oberösterreich verlegt, an Wien vorbei. Und als in Oberösterreich die Amerikaner kamen, tauchte Heinz bei Bauern unter und versteckte sich eine Weile. Im Juni erhielt Valerie Nachricht von ihm. Er wollte nicht mehr nach Hause.«
»Nicht mehr nach Hause?«
»Nein. Er war doch mit der Mutter zerstritten. Wir konnten alle nicht begreifen, was diese Zeit und dieser Prozeß und dieses elende Ariertum im Kopf des Buben angerichtet hatten. Er wollte auch nicht mehr nach Wien, weil hier die Russen saßen, er fürchtete, doch noch gefangengenommen zu werden. So arbeitete er bei den Bauern, und als dann die Kanadier sagten, sie würden Einwanderer aufnehmen, meldete er sich sofort. Er wollte weg aus Österreich, weg aus Europa! Valerie bettelte ihn an, zu bleiben. Damals gab es immer Leute, die unterwegs waren und Briefe mitnahmen. Sie flehte ihn an, wieder gut zu sein. Er antwortete verbittert. Für ihn war eine Welt zusammengebrochen. Er hatte sich doch so sehr mit der deutschen Seite identifiziert, er war – schrecklich, das zu sagen – ein richtiger, fanatischer Nazi geworden, der Heinz. Und da beging Valerie dann den großen Fehler …«
»Fehler?«
»Sie schrieb ihm die Wahrheit. Daß alles Lügen gewesen seien. Daß er in Wahrheit ein Mischling war.«
»Das schrieb sie ihm?«
»Ja, so hat es mir Martin erzählt. Alles, was ich Ihnen jetzt berichte, habe ich von Martin. Er war damals immer mit Valerie zusammen im Geschäft, nicht wahr? Ich sah sie monatelang nicht. Ich mußte doch das Haus in Hietzing hüten. Und krank wurde ich dann auch. Martin, der hat mir erzählt, wie das war …« Tilly löffelte Schlagobers. »Dieser Brief von Valerie löste bei dem Buben erst den richtigen Kurzschluß aus. Denn da schrieb er der Mutter, daß er nichts mehr mit ihr oder einem von uns zu tun haben wollte! Und dann, mit einem der ersten Transporte, emigrierte er tatsächlich nach Kanada. Schrecklich, schrecklich das alles für Valerie. Noch schrecklicher: Ein Jahr später kam Heinz in Quebec bei einem Autounfall ums Leben. Valerie war zu der Zeit überhaupt kein richtiger Mensch mehr. Umsonst, was sie getan hatte, alles umsonst …«
Und immer noch und immer wieder die verschiedenen Versionen über den Verbleib des Jungen, dachte Manuel. Was ist wahr, was ist Lüge? Nora Hill hat Valerie Steinfeld erzählt, Heinz sei nach Los Angeles geflogen, um dort zu studieren. Und ihr Mann hätte in England eine andere Frau geheiratet …