»Verlas er Nachrichten?«
»Nein, das nicht. Kommentare und … und solche Geschichten …«
»Nun, sehen Sie.«
»Das waren alles Platten?«
»Alles Platten!« Wer weiß, was für eine Stimme diese Frau für die ihres Mannes hält, dachte der Russe beklommen.
»Herr Major«, sagte Valerie Steinfeld, »ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«
»Das war doch selbstverständlich, Frau Steinfeld. Wenn sie mich brauchen … Wenn ich etwas für Sie tun kann … Mein Büro ist in der Argentinier Straße, im Rundfunkhaus.«
»Sehr freundlich«, sagte Valerie. »Warten Sie, ich führe Sie nach vorne. Die Tür ist verschlossen. Wir haben noch Mittagspause …«
Damit ging sie sehr aufrecht vor dem Major her durch den schmalen Gang in den Verkaufsraum und sperrte die Glastür auf. Der Russe drückte ihre Hand, verneigte sich und verließ die Buchhandlung. Valerie drehte den Schlüssel der Tür wieder.
»Um Gottes willen! Das ist ja furchtbar! Ganz furchtbar! Du mußt dich hinlegen … Du siehst ja aus wie der Tod … Komm schnell …« Martin Landau war ihr nachgeeilt.
Sie standen jetzt voreinander, neben dem alten Baribal-Bären beim Eingang.
»Ich muß mich nicht hinlegen. Mir geht es ganz gut«, sagte Valerie mit einer Stimme, die seltsam kindlich klang. »Also Paul ist tot. Und das war eine Platte, die ich da gehört …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Lautlos glitt sie auf den alten Dielenboden und bewegte sich nicht mehr. Sie hatte das Bewußtsein verloren.
60
»Kollaps«, sagte Ottilie Landau. »Sie hatte einen Kollaps erlitten. Martin rannte, um einen Arzt zu holen. Der kam zum Glück sofort und gab ihr eine Spritze. Danach fand Valerie das Bewußtsein wieder. Der Arzt bestand darauf, daß sie auf dem Sofa im Teekammerl liegen blieb. Bis zum Abend hatte er einen Krankenwagen organisiert – damals ein fast unlösbares Problem! In ihm fuhr Valerie heim. Sie mußte eine Woche im Bett bleiben, der Arzt besuchte sie täglich, Martin auch, ich auch. Die Agnes sorgte für sie. Valerie sprach fast nicht in dieser Woche, mit niemandem. Dann, acht Tage später, stand sie wieder im Geschäft.«
»So sehr hatte sie sich in der Gewalt?«
»So sehr, ja. Sie können sich die Kraft nicht vorstellen, die diese Frau besaß«, sagte Tilly Landau. Im Lokal flammten die kleinen, rotbeschirmten Lämpchen auf allen Tischen und die indirekte Deckenbeleuchtung auf. Es war sehr dämmrig geworden. »Eines tat Valerie nie mehr.«
»Was?«
»Sie hörte nie mehr London. Sie schenkte Martin den Apparat. Nun, Sie kennen ja Martin auch ein wenig, nicht wahr? Er wollte das Radio nicht fortgeben. Deshalb steht es immer noch im Teekammerl …« Tilly Landau hob die Schultern. »Wir haben uns sehr um Valerie gekümmert damals. Aber sie blieb verschlossen – für alle Zeit. Kaum daß sie in den vielen Jahren danach noch einmal mit uns über ihren Mann sprach. Im Sommer 1946 brachten englische Offiziere den Totenschein. Die BBC hatte Paul Steinfeld ein Grab gekauft und ihn bestatten lassen. Sie hatte auch die Instandhaltung des Grabes übernommen. Es wird auf ihre Kosten gepflegt – bis heute.«
»Frau Steinfeld ist niemals nach London gereist, um es zu besuchen?«
»Nein, niemals. Herr Aranda. Sie war … eine ganz außergewöhnliche Frau … Und mit den Jahren, mit den vielen Jahren, in denen sie, wie wir alle, älter wurde, kam eine immer größere Verschlossenheit hinzu. Sogar gegen uns, ihre alten Freunde, sogar gegen die Agnes. Nur Irene Waldegg war sie herzlich zugetan.«
Tilly Landau zuckte die Achseln. »Es wußte schon lange niemand mehr, was wirklich in ihr vorging … was sie dachte … Sie muß ein richtiges zweites Leben geführt haben!«
»Ein zweites Leben?«
»Wie erklären Sie sich sonst das, was sie zuletzt getan hat? Wir können es uns nicht erklären! Darum haben wir ja solche Angst! Und darum wollte ich unter allen Umständen verhindern, daß wir in diese Sache verwickelt werden.«
»Ich verstehe«, sagte Manuel Aranda.
61
Der Lichtkreis einer starken Taschenlampe wanderte langsam über die uralte dunkle Mauer und die unzähligen Jahreszahlen, Initialen und Symbole, die in den harten Stein geritzt waren.
»Hör doch auf«, sagte Irene Waldegg. »Du findest es nie!«
»Ich finde es«, sagte Manuel Aranda, der die Taschenlampe hielt. »Warte nur noch eine kleine Weile.«
Irene und Manuel standen in dem Arkadengang der Minoritenkirche. Kein Mensch außer ihnen war zu erblicken um diese Zeit – halb elf Uhr abends. Es schneite noch immer, doch die Flocken fanden nur selten ihren Weg in die enge Passage. Der Lichtkegel der Taschenlampe glitt weiter über die Wand …
Irene hatte mit Manuel im ›Ritz‹ zu Abend gegessen, danach waren sie noch in die Bar gegangen. Bei ihrem Eintritt hatten die alten Herren des kleinen Orchesters sich verneigt, und der Pianist hatte, langsam und sentimental, ›ihr‹ Lied zu spielen begonnen.
Während des Essens hatte Manuel Irene alles erzählt, was er gehört hatte. Es war sehr viel gewesen an diesem Tag. Manuel fühlte sich müde und mutlos, Forsters plötzlicher Tod machte ihn traurig.
Nun, in der Bar, sagte er: »Mehr und mehr erfahren wir. Und weniger und weniger wissen wir wirklich, was geschehen ist. Ich glaube dabei nicht einmal, daß mich die Menschen, mit denen ich sprach, belogen haben. Sie wissen eben alle auch nur soundsoviel. Das Geheimnis ist geblieben. Warum hat Valerie Steinfeld meinen Vater getötet und danach sich selber?«
›… daß unser beider Denken niemand erraten kann‹, spielte, mit Verneigungen, der alte Herr am Flügel, draußen in der Halle.
Manuel nickte ihm zu.
»Und dann dieser Heinz!«
»Was ist mit ihm?« fragte Irene.
»Ich begreife nicht. Waffen-SS! Im Herbst 1944! Als wirklich schon alles verloren war. Der Junge muß schwachsinnig gewesen sein. Es ist nicht zu fassen!«
»Ich kann mich in Heinz hineindenken«, sagte Irene.
Ja, dachte Manuel, du kannst es, du, seine Schwester …
Dann waren sie über den tiefverschneiten Ring gefahren. Manuel wollte Irene heimbringen. Nahe dem Burgtheater hatte er plötzlich gesagt: »Diese Kirche, bei der Bianca und Heinz sich trafen, die muß doch irgendwo hier sein.«
»Ja. Rechts.« Er war nach rechts eingebogen.
»Zeig mir den Weg«, hatte er gesagt. »Ich will sehen, ob ich das Herz finde, das Heinz damals in die Mauer geritzt hat.«
»Was für ein Unsinn!«
»Bitte, sage mir, wie ich fahren muß. Ich habe eine Taschenlampe im Handschuhfach.«
»Na schön …« Sie hatte lächelnd nachgegeben.
Nun standen sie schon eine Viertelstunde in dem engen Durchlaß, und Manuel suchte, suchte eifrig.
»Komm endlich«, sagte Irene. »Ich beginne zu frieren …«
»Da!« rief Manuel. »Da ist es!«
Im Licht der Taschenlampe war, verwittert und teilweise abgebröckelt, ein eingeritztes Herz zu erkennen. In ihm erblickten Manuel und Irene die Buchstaben B. H. und H. S., darunter die Jahreszahl 1941, danach einen waagrechten Pfeil, der auf eine liegende 8 deutete, das mathematische Zeichen für ›Unendlich‹. 1941 hatten Bianca und Heinz sich kennengelernt. Und sie hatten sich lieben wollen – in die Unendlichkeit.
»Du hast es gefunden!« Irene starrte das Herz an.
»Im Dezember 1943 haben die beiden hier gestanden«, sagte Manuel.
»Genau hier, wo wir jetzt stehen. Deshalb wollte ich herkommen – mit dir.«
»Weshalb?«
Er wurde unsicher.
»Nun, ich dachte … Ich stellte mir vor … Ach, ich bin ein Idiot …«
Irene nahm behutsam die Taschenlampe aus seiner Hand und knipste sie aus. In der Dunkelheit trat sie auf ihn zu, ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Lippen trafen die seinen. Er hielt sie fest. Der Kuß dauerte lange. In einer unwirklichen Stille standen die beiden, eng aneinandergepreßt, reglos. Er löste seine Lippen von den ihren und flüsterte: »Darf ich zu dir kommen?«
Er fühlte plötzlich, wie ihr Körper erstarrte.
»Nein«, sagte Irene, »bitte nicht, Manuel.«
»Verzeihung«, murmelte er.
Sie sagte, seine Wange streichelnd. »Sei nicht traurig. Ich … ich möchte es so gerne wie du …«