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»Wie?«

»Das werden Sie schon sehen«, hatte der Professor gesagt. »Sind auch sie entsichert, dann erst kann man das Steuerrad bewegen! Durch eine Drehung heben sich armdicke Stahlbolzen, die in der Decke, in der Seite und im Boden der Tresorwand stecken, aus ihren Vertiefungen und gleiten in die Panzerplatte zurück. Danach zieht man an dem Steuerrad, und der Tresor öffnet sich.«

»Und Sie glauben … Ich meine … Das trauen Sie sich wirklich zu?«

Anton Sirus hatte Mercier nur stumm angesehen ..

Nun steckte er sich die geschwungenen Bügel des Stethoskops in beide Ohren und preßte den Gummipfropf am Ende des langen roten Schlauches dicht neben den Konus und den Zahlenkreis. Er sagte dabei: »Von jetzt an muß ich um absolute Ruhe bitten.«

Mercier saß reglos. Er wagte kaum zu atmen.

Durch das Stethoskop, dachte er, hört der Professor nun, viele Male verstärkt, wie ein Arzt, der das Herz oder die Lunge eines Patienten untersucht, alle Geräusche in der Tresorwand, besonders bei dem Kombinationsschloß. Dem Einrasten gehen gewiß solche Geräusche voraus. Sirus kennt die Bedeutung jedes einzelnen. Er weiß, wann er auf dem rechten Weg ist, wann Gefahr droht, wann er weiterdrehen kann, wann er schnellstens zurückdrehen muß. Mercier starrte zu dem Professor hinüber.

Dessen edle, schlanke Finger hatten begonnen, den Konus zu bewegen, Millimeter um Millimeter gezogen, normal, stockend, pausierend, vor und zurück, je nach den Geräuschen zweifellos, die er über das Stethoskop empfing, Mercier fühlte, wie seine Hände feucht wurden. Der Professor arbeitete methodisch. Er hatte zuerst den Konus nach rechts gedreht, also zur 10 und endlich bis zur 20. Nun drehte er nach links, zur 90 und zur 80. Immer wieder zögerte er, immer wieder korrigierte er. Um Bruchteile von Millimetern bewegte der Konus sich unter seinen Fingern.

Ich hoffe, ich halte das durch, dachte Mercier.

Der Professor arbeitete ohne Anzeichen von Nervosität. Nach 26 Minuten drehte er sich plötzlich um und nahm die Bügel des Stethoskops aus den Ohren.

»Eingerastet«, sagte er gleichmütig.

»Die erste Zahl?« Mercier sprang auf.

»Nicht so laut! Es ist erst die erste Zahl, ja. Die 8.«

»Eine von sieben Zahlen haben wir schon!« Mercier war plötzlich außer sich. »Mit etwas Glück …«

Der Professor hob eine Hand. Die Knöchel der anderen klopften auf den Schreibtisch.

»Sagen Sie dieses Wort nie wieder«, sprach er streng.

»Verzeihung«, stammelte Mercier.

»Die erste Zahl findet jeder Idiot.« Der Professor hob die Brauen über den klaren Augen des scharfgeschnittenen Gesichts. »Wissen Sie, was die erste Zahl ist?«

»Was?«

»Der Eingang in das Labyrinth, sonst nichts.« Sirus nickte versonnen. »Nun sind wir im Irrgarten.« Er trat an den Schreibtisch, und in einer eigenen Kurzschrift hielt er auf dem Block fest, mit welchen Bewegungen des Konus er zu der ersten richtigen Zahl gekommen war. Danach wandte er sich wieder dem Tresor zu. Seine Finger ergriffen neuerdings den Einstellknopf und begannen ihn zu bewegen, Millimeter um Millimeter …

63

Daniel Steinfeld sagte: »Ich sah Valerie zum letztenmal im Juli 1948. Da war ich in Wien bei einem internationalen Treffen ehemaliger Widerstandskämpfer. Ich habe ein paar Tage hier gelebt.« Der Neunundsechzigjährige sah sich in dem großen Zimmer um, in dem er mit Irene und Manuel saß. Daniel Steinfeld machte einen erschreckenden Eindruck. Sein Anzug hing schlotternd an der großen Gestalt. Gelblich spannte sich die Haut über die Knochen des hageren Gesichtes mit den blutleeren Lippen und den eingefallenen Wangen. Gelblich waren auch die müden Augen und die Haut des kahlen, mit braunen Pigmentflecken übersäten Kopfes. Gelblich waren die knochigen Finger. Daniel Steinfeld sprach immer noch mit einem Wiener Akzent. Der ›Chopin-Expreß‹, der ihn nach Wien gebracht hatte, war mit vielstündiger Verspätung erst um 15 Uhr 45 auf dem Ostbahnhof eingetroffen.

»Was ist mit Valerie?« hatte der alte Mann sofort nach der Begrüßung gefragt.

Sie hatten es ihm erzählt, in Manuels Wagen, auf der Fahrt vom Bahnhof in die Gentzgasse. Schweigend hörte Daniel Steinfeld alles an, die Augen geschlossen, so daß man glauben konnte, er sei vor Erschöpfung eingeschlafen. Doch er schlief nicht. Ohne die Augen zu öffnen, stellte er von Zeit zu Zeit Fragen, wenn er nicht gleich die Funktion von Personen oder gewisse Zusammenhänge verstand, nickte dann und lauschte weiter. Er zeigte weder Entsetzen noch Abscheu oder Furcht. Als Irene die letzten Worte ihres Berichtes gesprochen hatte, murmelte er, in die Ecke des Fonds gerückt, die Hände in den Taschen, den Hut tief in der Stirn, frierend und leise: »Gott hat gegeben, Gott hat genommen.«

Sie luden Steinfelds Gepäck – zwei Koffer – aus und fuhren mit dem alten Mann in dem Aufzug, der ruckte, ächzte und wackelte, zur Wohnung hinauf. Heinz’ Zimmer war für ihn hergerichtet worden. Steinfeld sagte, er sei etwas müde und würde gerne ein wenig schlafen.

Er schlief bis halb neun Uhr abends, tief und fest. Manuel und Irene, die heute nicht in die Apotheke gegangen war, saßen in dem großen Zimmer, sprachen leise miteinander und warteten geduldig, bis Steinfeld, entschuldigend lächelnd, wieder auftauchte.

»Ich war doch viel müder, als ich gedacht habe …«

Sie aßen im Speisezimmer – Steinfeld erhielt eine Diätmahlzeit, die Irene entsprechend schriftlichen Anweisungen eines polnischen Arztes zubereitet hatte. Nach dem Abendbrot kehrten sie in das Wohnzimmer zurück. Hier tranken sie Tee. Tee durfte Steinfeld trinken, es war seine ganze Freude. Und während er, die Tasse haltend, von Zeit zu Zeit einen Schluck schlürfend, zusammengekauert dasaß, das Gespenst eines Mannes, der, dies zeigte sein Anzug, einst stark und kräftig gewesen war, hatte er zu erzählen begonnen …

»… 1948, ja, im Juli … Schlecht hat sie ausgesehen, die Valerie, elend schlecht. Wie eine alte Frau. Und sie war doch noch gar nicht alt! Einmal war sie ein schönes Mädchen gewesen! Aber nun lebte sie tief versunken in ihren Schmerz. Alles hat sie mir erzählt, damals … daß der Paul gestorben ist in London, ganz knapp vor Kriegsende noch, an inneren Blutungen … Es war auch für mich ein großer Schock, obwohl wir uns nicht gut verstanden haben, der Paul und ich …«

»Warum eigentlich nicht, Onkel Daniel?«

»Nenn mich Daniel, Irene, bitte.«

»Gerne …«

»Ja, warum nicht? Wir haben uns nie verstanden, schon als Kinder nicht. Immer haben wir uns geprügelt und gestritten. Über Lächerlichkeiten. Unsere Eltern waren sehr unglücklich. Aber sie konnten auch nichts machen. Paul war der Ältere. Ich habe fest geglaubt, daß meine Eltern ihn mehr liebten als mich … Unsinn natürlich, aber ich habe es geglaubt …«

Der alte Mann, der entschlossen war, noch auszuziehen in das ferne Land seiner Ahnen, hob die Hände. »Und dann die Mädchen …« Steinfeld lächelte. »Eine, die liebte ich ungeheuerlich! Sie lernte Paul kennen und verliebte sich in ihn, und er nahm sie mir weg … So lief das immer weiter … Er hatte schon Erfolg in seinem Beruf, da quälte ich mich noch mit Prüfungen herum … Mir ging erst ganz spät der Knopf auf … Und ich war neidisch und ungeduldig, ja, ich glaube, ich bin schuld an dieser schlechten Bruderbeziehung …« Steinfeld trank, er sagte: »Ich war auch sehr unreif und konnte Rückschläge nicht ertragen … Es hat lange gedauert, bis ich gelernt habe: Wer sein Leben will, der braucht dazu ein Herz, das dem Leiden gewachsen ist. Ein Mensch muß wissen, daß die Zeiten bald gut und bald schlecht sind. Und der Mensch allein ist achtenswert, der für das Gute dankbar ist und das Böse zu ertragen versteht …«

Wieder trank Steinfeld. »Wunderbarer Tee«, sagte er. »Als dann unsere Eltern starben, 1919 und 1920, knapp hintereinander, da kamen wir ganz auseinander, der Paul und ich. Wenn es je Momente gab, in denen wir uns wie Brüder benahmen, dann hat diese Momente immer Valerie herbeigeführt, unser guter Engel … Jetzt ist auch sie tot … 1948 saß sie hier mit mir – so lange ist das schon her! Sie hatte wohl ihre schlimmste Zeit. Denn da war ja auch noch ihr Bub, der Heinz … Im Dezember 1945 hat sie alles über ihn erfahren … von einem anderen Jungen … Ich weiß nicht mehr, wie er hieß …«