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»Valerie … ich … bitte, entschuldige, daß ich dich so überfalle, aber …«

»Was heißt überfalle?«

»… aber ich habe keinen Menschen, mit dem ich mich so gut verstehe wie mit dir … keinen Menschen … Ich … ich liebe dich, Valerie … glaubst du, daß du mich auch lieben kannst?«

»O Gott«, sagte Valerie.

»Wie?«

»Mein armer Karl.« Valerie strich ihm über die Wange. »Ich habe dich auch gern, wirklich … sehr, sehr gern habe ich dich …«

»Gern. Ach so. Ich verstehe.«

»Nein, du verstehst nichts.« Valerie senkte den Kopf. »Ich habe einen Mann kennengelernt, Karl. Er ist älter als ich. Schon eine ganze Weile kennen wir uns. Ich hätte es dir sagen sollen. Aber ich wußte ja nicht, daß du …« Sie kam nicht weiter.

»Ein anderer Mann.« Friedjung drückte mit einer Hand unter ihr Kinn, so daß sie den Kopf heben mußte. »Was für ein anderer Mann?«

»Er ist sehr verliebt in mich, weißt du …«

»Und du bist in ihn verliebt«, sagte er traurig.

»Vielleicht. Er ist so gut zu mir, so menschlich. Es tut mir wirklich leid für dich. Dieser Mann und ich, wir wollen uns verloben …«

»Was?«

»Ja. Gleich nach der Matura. Ich muß ihn meinen Eltern vorstellen. Die kennen ihn noch gar nicht.«

»Das heißt, ihr wollt heiraten?«

Valerie nickte.

»Und wie heißt dieser Mann?«

»Paul Steinfeld.«

»Der Journalist?«

»Ja, Karl.«

Friedjung sagte leise: »Dieser Paul Steinfeld ist doch ein Jude!«

»Das ist er. Ich verstehe nicht, was …«

Aber er unterbrach sie, und jetzt schrie er wieder: »Bist du denn wahnsinnig geworden? Die Schweine, die uns das alles eingebrockt haben, die alles zerstört haben, denen wir unser Elend verdanken – das sind doch die Juden! Und du willst eine Judenhure werden?«

Im nächsten Augenblick schlug ihm Valerie mit der offenen Hand ins Gesicht, so fest sie konnte.

69

»Diesen Schlag hat Karl Friedjung niemals vergessen«, sagte der alte Daniel Steinfeld. »Natürlich war von der Stunde an die Beziehung der beiden abgebrochen, und Haß trat an die Stelle von Liebe. Abgebrochen …« Steinfeld schüttelte den Kopf. »Falsch! Ich glaube, in einem anderen, tieferen Sinn kann man sagen, daß die Beziehung dieser beiden Menschen zueinander niemals abbrach, nein, niemals. Denn was ist Haß anderes als die zweite Hälfte der Liebe?«

»Das hat Valerie dir erzählt?« fragte Irene. Es war 23 Uhr 15, eine schöne antike Uhr mit einem waagerechten Vierkugelpendel, unter einem Glassturz, zeigte die Zeit.

»1948, als ich sie besuchte«, sagte der alte Mann. »Sonst hat sie bis dahin niemandem etwas darüber erzählt – ihrem Mann nicht und nicht Martin Landau. Auch ich hatte 1929 keine Ahnung, daß der Mann, der damals am Chemischen Institut Assistent wurde und dann bei mir arbeitete, daß dieser Doktor Karl Friedjung die Frau meines Bruders kannte. Er sagte mir nie ein Wort.«

»Friedjung wurde Ihr Assistent?« rief Manuel.

»Ja. Bis zu meiner Emigration. Ein hervorragender Biochemiker. Seine politischen Ansichten waren schon 1929 die eines fanatischen Nazis, und sie wurden es mehr und mehr.«

»Wie verhielt er sich dir gegenüber?« fragte Irene.

Daniel Steinfeld zuckte die Schultern.

»Meine Mitarbeiter und ich bildeten immer ein Team. Es gab da Juden, Katholiken, Atheisten, Nazis, Kommunisten. Ich hatte ein für allemal verboten, daß politisiert wurde. So blieb das Klima erträglich. Und dann waren wir auch zu sehr fasziniert von unserer Arbeit. Das verhinderte Feindschaften und Auseinandersetzungen. Ich glaube, ich kann sagen, daß nirgends so lange Frieden herrschte wie in meinen Laboratorien … Ein ausgezeichneter Wissenschaftler«, sagte Daniel Steinfeld. »Sehr begabt. Und mit großem pädagogischem Talent.«

»Er ist auch Direktor der Staatsschule für Chemie geworden«, sagte Irene.

»Ja.« Daniel fuhr sich mit seiner knochigen Hand über den kahlen Schädel. »Und zwar erst, als Heinz schon ein Jahr an diesem Institut war. Das hat mir Valerie erzählt. Sie bekam den Schreck ihres Lebens damals. Sie hätte Heinz sonst doch niemals in die Staatsschule geschickt! Aber als sie ihn anmeldete, war der Chef da noch ein alter, toleranter Herr, zu dem sie Vertrauen empfand. Wegen seines Alters und seiner Toleranz wurde er ein Jahr später in Pension geschickt und durch Friedjung ersetzt.«

»Zunächst verhielt der sich gegen Heinz ganz korrekt«, sagte Manuel.

»Zunächst, ja. Er wartete. Er hatte Zeit. Er wußte, er würde seine Gelegenheit bekommen in den vier Jahren, die Heinz am Institut sein sollte. Eine Gelegenheit, bei der er gegen den Jungen vorgehen konnte, um sich zu rächen für die Demütigung, die er indirekt durch einen Juden erlitten hatte … Er war einer von diesen scheinbar integren Überzeugungsnazis. Was heißt Nazi? Eine Frage des Typus … eine Frage des Regimes … Friedjungs hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben … Und niemand soll den Hochmut haben zu sagen: ›Bei uns wäre so etwas nicht möglich!‹« Steinfeld seufzte. »Nun ja, und als Friedjung dann die Möglichkeit hatte, nach Recht und Gesetz mit aller Schärfe durchzugreifen, da tat er es. Da nahm er Rache an Valerie, indem er sich an ihrem Sohn, dem Sohn des Juden, rächte. Er wollte ihn vernichten! Wenn er schon Valerie und ihren Mann nicht vernichten konnte, dann sollte die Mutter ihr Kind verlieren, dann sollte Heinz draufgehen! Er hat sein Ziel erreicht, wenn auch anders, als er es sich dachte …«

»Und er ist selber draufgegangen dabei«, sagte Manuel.

»Das eben«, sagte Daniel Steinfeld, »wollte Valerie nicht wahrhaben …«

70

»Er lebt!« sagte Valerie Steinfeld.

»Er ist tot!« sagte Daniel Steinfeld.

»Er ist nicht tot«, sagte Valerie Steinfeld.

»Herrgott, das redest du dir doch nur ein! Das ist doch nur eine fixe Idee von dir! Nicht die geringsten Beweise hast du dafür, daß Friedjung noch lebt!«

12. Juli 1948.

Der Tag war heiß.

Im Schatten eines alten Baumes saßen Valerie und Daniel Steinfeld auf einer Bank im blühenden Volksgarten, nahe dem Burgtheater. Die Splittergräben, die Bombentrichter hatte man zugeschüttet. Man hatte neues Gras und neue Blumen und Sträucher gepflanzt. Noch in der Zeit des größten Hungers und Elends waren die Parks der Stadt Wien wieder in Ordnung gebracht worden. Erschöpft saßen die Menschen nun auf den Bänken, Kinder liefen lachend umher, spielten Ball, trieben Reifen.

Valerie trug ein altes Kostüm, Daniel Steinfeld einen ehemals eleganten, nun abgenützten Anzug. Er sah kräftig, stark und gesund aus. Valerie wirkte krank. Ihr Schwager hatte sie in der Buchhandlung abgeholt – zu Beginn der Mittagspause.

»Keine Beweise«, sagte Valerie. »Ich habe eine Menge Beweise!«

»Zum Beispiel?«

»Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die damals den Angriff auf die Chemieschule erlebten. Sie alle sagen, die meisten Toten waren so schrecklich entstellt, daß man sie nur an Hand von Papieren identifizieren konnte, die sie bei sich trugen.«

In der Nähe sangen Kinder: »Laßt die Räuber durchmarschieren, durch die goldne Brücken …«

»Aber den Friedjung hat seine Frau identifiziert! Und Schüler! Und Kollegen!«

»Ja, nach seinen Papieren!«

»Woher weißt du das? Hast du mit allen gesprochen? Auch mit seiner Frau?«

»Mit allen. Nur mit der Frau nicht. Die läßt sich nicht sprechen. Ich habe es schon ein paarmal versucht – umsonst.«

»Wieso umsonst?«

»Friedjung muß ihr von mir und Paul und dem Jungen erzählt haben. Sie weigert sich, mich zu empfangen. Sie haßt mich …«

»Valerie!« Steinfeld griff nach einer ihrer Hände. »Du mußt dich zusammennehmen! Diese Frau haßt dich nicht. Welchen Grund hätte sie? Sie will nur nicht an den Tod ihres Mannes erinnert werden. Du, du haßt Friedjung! Du willst, daß er noch lebt!«

»Er lebt auch!« sagte Valerie starrsinnig.