Ein Mann ohne Beine, auf seinem Rumpf sitzend in der Mitte einer kleinen Plattform aus Brettern mit vier dicken Holzrädern, rollte über den Kiesweg an ihnen vorbei. Er trug Schutzleder an den Händen. Schnell und geschickt stieß der Mann sein Gefährt vorwärts.
»Er lebt nicht, er ist tot! Ich habe mir gestern die Mühe gemacht, zum Magistrat zu gehen und mir die Sterbeurkunde anzusehen. Und dann war ich auf diesem Friedhof an der Ettinghausenstraße, und da habe ich Friedjungs Grab besucht. Valerie, bitte!«
»Es sind viele Leute von der Straße in das Institut gekommen bei diesem Angriff. Das haben mir Schüler und Lehrer gesagt. Als die Bomben das Gebäude trafen, waren alle in den finsteren Kellern lange eingeschlossen. Friedjung hat einem Toten, dessen Gesicht zerschlagen war und der ungefähr dieselbe Statur hatte, seine Kleider angezogen und ihm seine Dokumente in die Tasche gesteckt und ist dann, als die Rettungsmannschaften kamen, davongeschlichen, vorsichtig, so, daß es niemand merkte …«
»Das denkst du dir, weil du willst, daß es so war!«
»Es kann so gewesen sein. Ganz leicht kann es so gewesen sein, Daniel!« Jetzt sangen die Kinder: »Ringel, ringel, reiher, sind wir unser dreier …«
Valerie sagte: »Er hatte eine Freundin, der Friedjung. Das weiß ich bestimmt. Auch dieser Sache bin ich nachgegangen. In der Siebensterngasse hat sie gewohnt. Ein Baby hat sie gehabt. Ein uneheliches Kind. Die Hausmeisterin beschwört es. Spiegel hat die Frau geheißen. Höchstens siebenundzwanzig Jahre alt war sie. Friedjung hat sie ständig besucht. Er war ihr Geliebter. Und der Vater von ihrem Kind.«
»Sagt die Hausmeisterin.«
»Ja! Ja!«
»Woher weiß sie, daß es Friedjung war, der die Frau besuchte?«
»Ich habe ihn beschrieben. Sie hat ihn nach der Beschreibung erkannt.«
»Umgekehrt wäre das interessanter gewesen«, sagte Steinfeld.
»Eine Woche nach dem Angriff auf die Chemieschule ist die Spiegel mit ihrem kleinen Kind verschwunden! Nachts! Ein Auto hat sie abgeholt. Alles hat sie zurückgelassen, nur einen Koffer mitgenommen! Die Hausmeisterin hat es gesehen. Ein großer Wagen war das. Mit Chauffeur. Und hinten im Auto saß er, Friedjung!«
»Das hat die Hausmeisterin gesehen? Mitten in der Nacht? Bei völliger Verdunkelung?«
»Etwas Licht war da … im Wagen!« Valerie ließ sich nicht beirren.
»Friedjung hat seine Geliebte abgeholt und ist untergetaucht.«
»Wohin?«
»Irgendwohin. Nach Deutschland. Ins Ausland. Ein Bonze! Diesen Leuten war alles möglich damals, knapp vor dem Zusammenbruch. Er lebt, Daniel! Friedjung lebt! Und ich werde ihn finden …« Er schwieg beklommen. Das alles hat keinen Sinn, dachte er. Diese Frau ist durch ihren Kummer ganz und gar verwirrt.
»Und wenn ich ihn gefunden habe …« Valerie sprach den Satz nicht zu Ende. Ihre weißen Hände ballten sich zu Fäusten. Und tausend Blumen blühten ringsum und dufteten und leuchteten in allen Farben, und die Kinder sangen noch immer.
71
Jäh wie der Blitz drehte Anton Sirus’ Hand den Konusknopf zurück. Er murmelte einen Fluch. Mercier, der neben ihm stand und dem Professor von Zeit zu Zeit die Stirn trockengewischt hatte, sprang erschrocken zur Seite.
»Was war das?«
»Eine Katastrophe, um ein Haar«, antwortete der Professor, schwer atmend. »Einen halben Teilstrich über die richtige Zahl hinaus. Ich hörte schon, wie sich die Arretierungsvorrichtung öffnete, um zuzuschnappen.«
Mercier wurde blaß.
»Großer Gott. Vier Zahlen haben wir schon.«
Er sah zu dem Schreibtisch und den Blättern mit den Notizen und Berechnungen. Obenan auf einem Blatt standen die bereits gefundenen Kombinationsnummern: 8 4 1 9.
Mercier sagte: »In zwanzig Minuten Mitternacht. Und Sie hätten wieder von vorn beginnen müssen.«
Der Professor nickte nur. Er stand schon wieder vor dem Einstellkonus. Millimeter um Millimeter drehte er den Knopf auf die Zahl zu, über die er hinausgeraten war. Auf einmal stockte er und nahm sich die Stethoskopbügel aus den Ohren. »Die fünfte Zahl ist die 3.« Er schrieb sie in die Reihe der anderen und notierte danach wieder alle Bewegungen des Einstellrades, vor, zurück, normal, gezogen, die er ausgeführt hatte, um die 3 zu erreichen.
»Das ist ein Beruf, bei dem man fromm werden kann«, sagte Mercier. Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da ertönte, schnell lauter werdend, das an- und abschwellende Heulen einer Sirene.
»Licht aus!« zischte der Professor, sehr leise.
Mercier hastete zu der Tischlampe. Das Büro lag nun im Dunkeln. Der Franzose fand den Weg zu einem der Fenster und schob den Vorhang zurück. Über die verschneite, menschenleere Fahrbahn des Kohlmarktes kam eine Funkstreife herangejagt. Ihr Blaulicht kreiste, ihre Sirene heulte. Auf dem Schnee schleudernd, hielt der Wagen direkt unterhalb des Fensters. Zwei Uniformierte sprangen heraus. Sie liefen auf den Gehsteig. Mercier konnte sie nicht mehr sehen.
»Polizei«, sagte Mercier atemlos.
Er erhielt keine Antwort, aber er war so erschrocken, daß ihm das nicht auffiel. Er starrte weiter in die Tiefe. Endlose Minuten verstrichen. Mercier fing an, lautlos zu beten. Wenn jetzt noch alles schiefging, jetzt noch …
Plötzlich tauchten die Polizisten in ihren Lederjacken wieder auf. Sie schleppten zwischen sich einen tobenden Betrunkenen, der wüst brüllte. Mit Mühe schafften sie den Mann in den Wagen. Türen flogen zu. Das Blaulicht begann zu zucken, die Sirene heulte auf, als die Funkstreife anfuhr.
Zahlreiche Fenster in den Häusern gegenüber waren erhellt, Menschen beugten sich neugierig aus ihnen. Auf meiner Seite wird das auch so sein, dachte Mercier. Na, egal. Noch einmal gutgegangen. Er ließ den Vorhang zurückgleiten, tastete sich zum Schreibtisch und knipste die Lampe wieder an. Ein heißer Schreck durchfuhr ihn. Anton Sirus war verschwunden!
Ich werde verrückt, dachte Mercier. Das gibt es doch nicht, das ist doch unmöglich. Er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Dann sah er Sirus. Der Professor saß, im Schneidersitz, mit untergeschlagenen Beinen, auf dem Teppich. Sein Gesicht hatte einen entrückten, sanften Ausdruck angenommen. Er starrte eine offene Bücherwand mit juristischen Werken an, reglos, anscheinend völlig glückselig. Wie Sirus dasaß, erinnerte er Mercier an eine Buddha-Figur. Nur, dachte er, liegen beide Hände des Professors ruhig und locker im Schoß. Bei den Buddhas ist immer eine Hand lehrend erhoben.
»Herr Sirus!«
Keine Antwort, keine Reaktion.
»Sirus, was haben Sie!« rief Mercier, nun schon in gelinder Panikstimmung.
Der Professor bewegte keine Wimper. An Mercier vorbei blickte er die Bücher an.
»Sirus! Sirus! Ich flehe Sie an, sagen Sie etwas! Ein Wort! Ein einziges Wort!«
Doch Anton Sirus sagte nichts, und Mercier ließ sich stöhnend in einen Sessel fallen. Tot ist er nicht, dachte er idiotisch. Tote sitzen nicht so aufrecht. Er muß wahnsinnig geworden sein. Die geistige Anstrengung und der Schrecken jetzt waren zuviel für ihn. Wahnsinnig, ja, das ist er. Ich bin mit einem Wahnsinnigen in einem Büro, aus dem ich allein nicht mehr hinaus kann …
72
An einem Tag Anfang September 1966 saßen zwei Männer in einem modernen chemischen Laboratorium, das an der Rückseite eines großen Gebäudes lag. Durch die Fenster sah man einen alten Park. Das Institut befand sich fünfunddreißig Kilometer südwestlich von Warschau. Es gehörte zur Universität der Hauptstadt. Professor Daniel Steinfeld arbeitete in diesem Haus mit einem ausgesuchten Mitarbeiterstab an der Erforschung von neuen Mitteln gegen Schädlinge von Pflanzen und Tieren. Steinfeld hatte einen Lehrstuhl für Biochemie an der Universität, er hielt sich aber oft und lange hier auf. Trotz seines Alters war er von unglaublicher Vitalität. Sein Gesicht sah aus wie das eines Fünfzigjährigen, die Wangen waren kräftig durchblutet, die Augen blitzten, ein Haarkranz lief um den mächtigen Gelehrtenschädel.
Der andere Mann in dem hellen Laboratorium hatte eine Glatze, hervortretende Basedow-Augen und einen ziemlichen Leibesumfang. Er keuchte leise beim Sprechen. Thomas Meerswald litt an leichtem Asthma. Er und Steinfeld kannten einander seit vielen Jahren. Herzliche Freundschaft verband den gefeierten polnischen Wissenschaftler und den Mann aus Wien, der ein Dokumentationszentrum errichtet hatte und in aller Welt nach Nazikriegsverbrechern und geheimen Rüstungsstätten fahndete. Steinfeld wußte an diesem milden Septembertag nicht, daß er ein Jahr später von der Universität gejagt, aller seiner Ämter enthoben und als ›Zionist und amerikanischer Agent‹ unter Anklage gestellt werden sollte. Meerswald ahnte nicht, daß er nur noch etwas mehr als zwei Monate zu leben hatte …