»Ich habe einiges über diesen Karl Friedjung gefunden«, sagte der Wiener. Durch Steinfelds Vermittlung stand ihm das große polnische Archiv zur Verfügung, in welchem Zehntausende von deutschen Kriegsverbrechern dokumentarisch erfaßt und systematisch geordnet worden waren. Steinfeld war Meerswalds Verbindungsmann zu allen Behörden, sie arbeiteten seit Kriegsende gemeinsam. »Die Unterlagen ergeben, daß dieser Friedjung unter den Nazis an geheimen Forschungsaufträgen arbeitete – neben seiner Stellung als Direktor der Chemischule in Wien, die nur seine Tarnung war. Die Forschungsaufträge wurden in Berlin koordiniert – es handelte sich um Giftgase.« Meerswalds Atem kam leicht rasselnd. »Ich habe bei euch auch sichere Beweise über Friedjungs Versuche an KZ-Häftlingen gefunden. Mindestens sechzig Menschen starben durch seine Schuld.«
»Das glaube ich dir alles, Thomas.« Steinfeld stand auf. »Aber dieser Friedjung ist tot! Umgekommen bei einem Luftangriff! In seiner Chemieschule! Ich war selber in Wien – 1948 –, ich habe die Sterbeurkunde eingesehen, ich habe das Grab besichtigt, ich habe mit Friedjungs Witwe gesprochen. Der Mann ist tot …«
»Deine Schwägerin glaubt es nicht.«
»Valerie?« Steinfeld seufzte. »Gibt sie noch immer keine Ruhe?«
»Sie ist zu mir gekommen. Vor zwei Monaten. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt.«
»Thomas«, sagte Steinfeld nervös, »laß dich nicht verrückt machen. Die arme Frau hat schrecklich gelitten …«
»Das weiß ich.«
»… und sie war völlig verstört, als ich sie zuletzt sah. Wir haben eine Ewigkeit nichts mehr voneinander gehört. Sie schreibt mir nie. Ich dachte, sie tut es absichtlich – um all das Schreckliche zu vergessen, um durch mich nicht mehr daran erinnert zu werden an das, was sie erlebt hat …«
»Das ist auch so. Sie hat mir gesagt, ich soll dir nichts von ihren Besuchen bei mir erzählen, denn du würdest mir andeuten, sie sei einfach nicht ganz richtig im Kopf.«
»Besuchen? Warst du mehrmals mit ihr zusammen?«
»Mit ihr und einem Mann von der argentinischen Botschaft in Wien. Gomez heißt er. Mein Mann für Argentinien. Wir trafen uns an verschiedenen Orten – Gomez muß bei seiner Stellung achtgeben.«
»Warum war Valerie dabei?«
»Ich wollte, daß auch Gomez sie hörte. Er kennt sich aus in seiner Heimat. Ich hoffte, er würde auf eine Idee, eine bestimmte Person kommen, die in seiner Liste der Verdächtigen steht, wenn Valerie ihm Friedjung genau beschrieb, wenn sie ihm alles über diesen Mann erzählte.«
»Und?«
»Nichts. Gomez ließ verschiedene Leute in Argentinien durch seine Mitarbeiter überprüfen. Alle Untersuchungen sind negativ verlaufen. Nicht die geringste Spur von Friedjung.«
»Das sage ich dir doch!« Steinfeld regte sich auf. »Warum glaubst du mir nicht? Es kann keine Spur von Friedjung mehr geben, er ist tot, tot, tot!«
Meerswald fragte schnaufend: »Warum bin ich dann ständig beobachtet worden, wenn deine Schwägerin und ich mit Gomez zusammentrafen?«
»Ihr wurdet beobachtet?«
»Ich habe ein Gefühl für so etwas, das weißt du. Geschickt überwacht. Sehr geschickt. Dauernd folgte uns jemand.«
»Thomas«, sagte Steinfeld, »ist dies das erste Mal, daß du überwacht wirst?«
»Natürlich nicht …«
»Also! Ein Mann wie du ist ständig verfolgt …«
»Ja, wenn ich auf Reisen bin. Aber in Wien! In Wien war es das erste Mal! Und ausgerechnet deine Schwägerin war immer dabei …«
Steinfeld stand auf und betrachtete sorgfältig eine dunkelrote Flüssigkeit, die in einem Glaskolben brodelte. Ein langer Kühler war an den Hals des Kolbens geschlossen. Aus dem Ende der Kühlerschlange tropfte ein farbloses Destillat. Steinfeld sagte: »Du bist nicht nur hinter Kriegsverbrechern her, Thomas. Auch hinter Wissenschaftlern, die irgendwo in der Welt neue Waffen produzieren. Man hat dich mit Valerie Steinfeld gesehen. Die Leute, die dich beobachten, wissen bestimmt von ihrem Schicksal. Sie wissen von mir. Ich könnte auch B- oder C-Waffen herstellen. Ich bin hochinteressant für den Westen – oder?«
»Das stimmt. Und wenn Friedjung noch lebte …«
»Hör endlich damit auf!«
»Sofort. Wenn er noch lebte, dann wäre Friedjung interessant für den Westen – und für den Osten, vorausgesetzt, daß er weitergearbeitet hat. Er war ein fanatischer Nazi. Deutschland hat den Krieg verloren. Friedjung würde, wenn er noch lebte, bestimmt weiterarbeiten und die Ergebnisse seiner Forschungen beispielsweise voll Haß auf den Osten an die Amerikaner verkaufen – habe ich recht?«
»Er ist tot, Thomas, er ist tot!«
»Wenn er nicht tot wäre! Da müßte doch auch ein enormes Rachebedürfnis mitspielen, wie? Vielleicht irre ich mich, und er haßt die Amerikaner. Die haben schließlich auch gegen Deutschland Krieg geführt. Dann würde er seine Arbeiten dem Osten zur Verfügung stellen. Beides wäre möglich …«
73
»Mit Gott«, sagte der Professor und zog den konusförmigen Drehknopf an der Tresorwand an. »Ich versuche es jetzt so.«
8 4 1 9 3 5.
Diese Zahlen standen nebeneinander auf einem der Papiere, die den Anwaltsschreibtisch bedeckten. Der Professor hatte in der letzten Dreiviertelstunde die sechste Zahl gefunden.
Es war 0 Uhr 46 am Dienstag, dem 28. Januar 1969.
Der Franzose, erschöpft zum Umfallen, stand neben Sirus und tupfte diesem, der keinerlei Zeichen von Ermüdung zeigte, die Stirn trocken.
Mercier erlebte die anstrengendste Nacht seines Lebens. Der Schreck beim Anblick des reglosen, nicht ansprechbaren Sirus, der die Bücherwand angestarrt hatte, saß dem Franzosen noch in den Knochen.
Sechs endlose, grauenvolle Minuten hatte der Professor im Lotussitz, die Hände im Schoß, aufrecht, mit sanftem, entrücktem Gesicht, einer Statue gleich, zugebracht, während Mercier, am Schreibtisch, die Zähne in die Knöchel seiner Hände bohrte und abwechselnd lautlos fluchte und betete. Dann, so plötzlich, daß Mercier einen leisen Schrei ausstieß, hatte Sirus sich geschmeidig erhoben und den Franzosen angelächelt. Ein unendliches Gefühl des Friedens ging nun von ihm aus.
»Was … was war los mit Ihnen?« stammelte Mercier. »Was haben Sie da gemacht auf dem Boden, Herr des Himmels?«
»Yoga«, sagte der Professor, die Finger bewegend und Lockerungsübungen veranstaltend.
»Wie?«
»Ich bin ein alter Yoga-Anhänger. Das Wunderbarste, was es gibt. Durch Meditation, geistige Konzentration, durch völlige Herrschaft über den Körper wird der Geist befreit. In schweren Sekunden meiner Arbeit, nachdem – wie vorhin – ein Unglück gerade noch verhindert werden konnte, setze ich mich stets so hin.«
»Es war also nicht die Sirene, die Sie erschreckt hat?«
»Was für eine Sirene?« fragte der Professor verwundert.
»Sie haben nichts gehört?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Aber daß ich das Licht ausknipste …«
»Sie haben das Licht ausgeknipst?«
Mercier hatte nur schwach gestöhnt und abgewinkt. Der Professor war, frisch und mit neuen Kräften, an den Tresor getreten …
Der nun gezogene Einstellknopf drehte sich, unendlich langsam, Mercier konnte es nicht mitansehen. Er blickte zur Seite. Im nächsten Moment erklang die ruhige Stimme des Professors: »Wir haben die siebente Zahl. Es ist die 2.«