»Ich verstehe schon.«
»Ich rufe an, Herr Hofrat. Und ich besuche Sie wieder. Vielleicht morgen?«
»Morgen ist fein.« Groll drückte Manuel herzlich die Hand. »Und alles Gute, mein Lieber …«
Allein, hatte der Hofrat sich in den alten, geschnitzten Sessel hinter seinen Schreibtisch gesetzt und dem Rauch einer zweiten Zigarre nachgeblickt, die ihm nun zwischen den Lippen hing.
Bald war Seelenmacher erschienen. Groll hatte Tee gekocht und den Samowar auf das Tischchen neben dem Schreibtisch gestellt. Sie schlürften beide die heiße, duftende Flüssigkeit, während Groll seinen Freund informierte, wobei er wieder auf und ab zu gehen begann, weil er so leichter Luft bekam. Endlich war er fertig gewesen und vor Seelenmacher stehengeblieben.
»Jetzt kennst du die ganze Geschichte.«
Seelenmacher sah auf den Teppich und schwieg lange.
»Was hast du?« fragte Groll zuletzt, wobei er ein Fläschchen Magenbitter hervorholte und öffnete.
»Ich muß an so vieles denken«, sagte der Weinhauer. »Einmal, da erzählte ich deinem Manuel die Geschichte von den sechsunddreißig Gerechten, die es immer auf unserer Welt gibt, immer und zu allen Zeiten, die es einfach geben muß. Doktor Forster ist vielleicht so ein Gerechter gewesen. Daniel Steinfeld ist vielleicht ein solcher Gerechter. Und wenn er stirbt, wird ein anderer seinen Platz einnehmen. Immer wird ein Nachfolger da sein.« Seelenmacher sah auf seine großen Hände. »Ich habe ihm gesagt, daß er Frieden finden wird zuletzt, wenn er alles versteht und alles weiß …«
»Ich glaube nicht, daß Manuel schon Frieden gefunden hat«, sagte Groll.
Er trank das Fläschchen leer.
»Das glaube ich auch nicht.« Seelenmacher sah auf. »Zwei junge Männer gibt es in dieser Geschichte – Manuel Aranda und diesen Heinz Steinfeld. Sie sind einander ähnlich in ihrer Not … ihrer Unruhe, in ihrem Suchen und Verlangen und Wünschen … Sehr ähnlich … Heinz Steinfeld, der hat seinen Frieden ganz gewiß erst im Tod gefunden …«
»Was willst du damit sagen?«
»Als er gestorben war, war alles gut. Vorher nie, bestimmt nicht. Dein Manuel ist davongekommen. Aber das ist nicht mehr der Mann, der nach Wien kam vor zwei Wochen. Das ist ein anderer Mann, Wolfgang. Und ich glaube nicht, daß er jemals über das hinwegkommen wird, was er nun weiß …«
»Vielleicht zusammen mit einer Frau, die ihn liebt.«
»Selbst dann nicht …« Seelenmacher schüttelte den Kopf. »Das, was auch in ihm gestorben sein muß, kann niemand mehr lebendig machen. Er ist ein Gezeichneter geworden …«
In diesem Moment zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Unmittelbar darauf krachte überlaut der Donnerschlag. Jäh kam Sturm auf. Der Fensterflügel klapperte. Groll schloß ihn hastig. Wieder blitzte es, und wieder. Der Donner riß nicht mehr ab.
»Ein Wintergewitter!« Der Hofrat sah auf die Straße hinunter. Es war nun fast Nacht geworden, Autos und Straßenbahnen fuhren mit Licht.
»Darum war mir gestern so mies. Ich habe das in den Knochen gespürt!«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da begann, mit ohrenbetäubendem Lärm, heftiger Eisregen herabzustürzen. So dicht waren die Körner, daß man das Haus gegenüber nicht erkennen konnte. Die Hagelschloßen knallten auf die Fahrbahn und sprangen von ihr empor. Menschen rannten in Hausflure. Autos und Straßenbahnen blieben stehen. Man sah keine fünf Meter weit.
»Der Kreis hat sich geschlossen«, sagte Seelenmacher. »Um die halbe Erde hat sein Weg diesen Doktor Aranda geführt – bis in die Buchhandlung Landau, zu Valerie Steinfeld. Er hatte keine Ahnung, daß sie da arbeitete. Und trotzdem. Und trotzdem! Du bist Naturwissenschaftler. Du magst mein Gerede oft nicht, besonders, wenn ich sage, daß alles vorausbestimmt ist, daß es keine Zufälle gibt …«
»Ich mag deine Art von Erklärung nicht«, sagte Groll, in das Unwetter starrend. »Du bist ein gläubiger Mensch. Ich versuche alles, was mit dem Glauben zusammenhängt, immer weit wegzuschieben. Mir fällt das Glauben eben zu schwer. Ich habe auch eine Theorie über den Zufall, aber die sieht anders aus als deine …«
»Ja, ich weiß. Ich glaube daran, daß es nur magische Zufälle gibt, also keine wirklichen … Du hast mir erzählt, daß dieser Friedjung Valerie Steinfeld einmal liebte …«
»Ja.«
»Und sie ihn … Wenn du willst, hast du hier das Liebespaar dieser Geschichte – ein tragisches, böses, aber dennoch das eigentliche … Im Tod berührten sich noch ihre Hände, noch im Tod … Es war eine Notwendigkeit, daß die beiden einander trafen, eine metaphysische Notwendigkeit, du magst das alles nicht, ja, ja … und trotzdem … ›Alles Getrennte findet sich wieder.‹ So ähnlich steht es doch bei deinem geliebten Goethe, nicht?«
Groll brummte: »Diesmal ist es nicht Goethe, sondern Hölderlin: ›Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder.‹« Sein Blick fiel auf den kleinen Rahmen am Fuß der Schreiblampe, er sah das Ginkgo-Blatt an, das da unter Glas lag.
»Ja, Ernst«, sagte Groll. »So heißt es. Das also ist der ›geheime Sinn‹ gewesen …« Der Mann, der sich selbst einmal einen ›frommen Heiden‹ genannt hatte, sprach, während draußen der Hagel prasselte und Blitze zuckten und Donner rollten, langsam: »Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident. Nörd- und südliches Gelände ruhn im Frieden seiner Hände …«
Ein blendender Blitz erhellte das Zimmer. Sofort folgte der Donnerschlag. Und dann begann das Telefon zu läuten.
Groll hob ab und meldete sich.
»Hier ist Nora Hill«, sagte eine Frauenstimme, kaum verständlich, denn in der Verbindung knisterte und rauschte es.
»Küß die Hand, gnädige Frau. Was verschafft mir …«
»Ich habe keine Zeit.« Die Stimme klang hastig. »Herr Hofrat – ich weiß, Sie werden mich nie verraten –, ich muß Ihnen einen Tip geben. Es ist dringend. Ganz dringend.«
»Sprechen Sie.«
Nora Hills Stimme kam in Bruchstücken, gestört durch Geräusche in der Leitung: »… doch bei einem Anwalt in einen Tresor gelegt, nicht wahr?«
»Ja, Und?«
»Rufen Sie diesen Anwalt sofort an! Sagen Sie ihm, er soll den Tresor öffnen und nachsehen, ob das Material von Manuel Aranda noch darin liegt!«
»Was bedeutet das?«
»Keine Zeit, es zu erklären … kann ich überdies nicht …«
»Ich danke Ihnen, gnädige Frau. Ich werde sofort … hallo!«
Groll schüttelte den Hörer. Die Leitung war tot.
In einer Telefonzelle am Stadtrand stand Nora Hill, auf ihre Krücken gestützt. Georg wartete draußen im Wagen. Nora sah in das Unwetter. Ich habe getan, was ich konnte, dachte sie.
Groll, hinter seinem Schreibtisch, hatte plötzlich ein dunkelrotes Gesicht bekommen, während er hastig die Nummer der Kanzlei Dr. Stein wählte. »Was ist?« Seelenmacher sah ihn besorgt an.»Wolfgang! Reg dich nicht so auf!«
»Ich erkläre dir alles sofort … Fräulein? Fräulein! Dieses elende Wetter! … Ja, ich höre Sie auch kaum! Hier ist Groll. Verbinden Sie mich bitte mit Doktor Stein …« Gleich darauf hatte er den Anwalt am Apparat. Das wüste Gewitter machte die Verständigung schwer. Groll mußte schreien. Schreiend äußerte er den Wunsch, Stein möge seinen Tresor öffnen. Zwei Minuten vergingen. Dann hörte Seelenmacher seinen Freund sagen: »Verschwunden. Alles … Nein, unternehmen Sie nichts … nicht das geringste … Sie hören wieder von mir.« Er legte auf und wählte neu.
»Wolfgang!« rief der Weinhauer.
»Gleich. Es hat sich alles noch einmal gedreht«, sagte Groll. Er telefonierte jetzt mit dem Ministerialrat Hanseder von der Staatspolizei, dem er den Diebstahl der Dokumente und der Filmrolle meldete. Er bat ihn um weitgehende Vollmachten. Hanseder versprach, schnellstens zu entscheiden.
Groll rief im ›Ritz‹ an.
»Bedaure, Herr Aranda ist nicht im Hause … Nein, wir wissen nicht, wo er sich befindet …«
Groll rief die Möven-Apotheke an.
Ein Mädchen erklärte: »Herr Aranda war da. Vor zehn Minuten ist er mit Fräulein Waldegg fortgefahren.«