»Wohin?«
»Das weiß ich nicht. Jemand hat telefoniert. Dann sind sie ganz plötzlich …«
»Danke«, sagte Groll. Er hatte eben aufgelegt, da klingelte das Telefon wieder. Sein Freund Hanseder war am Apparat: »Du hast freie Hand – aber wenn etwas schiefgeht, trägst du die Verantwortung. Wir haben mit der Sache nichts zu tun.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Groll böse.
Seelenmacher war an den Schreibtisch gekommen, während Groll in fliegender Hast die Nummer des Sicherheitsbüros wählte.
»Man hat die Dokumente aus dem Tresor gestohlen?«
»Ja! Und Manuel und die Waldegg sind weggefahren, keiner weiß wohin, nach einem Anruf …«
»Großer Gott!«
Grolls Erschöpfung schien weggezaubert. Staunend hörte Seelenmacher, wie er seinen Chef um Genehmigung einer Großfahndung mit allen verfügbaren Wagen und Mannschaften bat. Er erhielt die Erlaubnis. Bereits Minuten später fuhren die ersten Streifen, die eine Beschreibung von Irene und Manuel sowie von Manuels Wagen erhalten hatten, aus dem Hof des Sicherheitsbüros. Da telefonierte Groll gerade mit dem Inspektor Schäfer.
»Nehmen Sie sich einen Wagen und holen Sie mich ab.«
»Aber Sie sind doch krank, Herr Hofrat …«
»Krank, Scheiße! Einer muß das jetzt koordinieren! Holen Sie mich ab, sage ich Ihnen! In zehn Minuten sind Sie da! Ich ziehe mich an und warte auf der Straße! Kein Wort mehr, kommen Sie!« Groll knallte den Hörer in die Gabel und eilte in das Schlafzimmer, wo er sich anzukleiden begann. »Die Schweine«, sagte er dabei. »Sie dürfen es nicht schaffen … Wir müssen schneller sein diesmal … wir müssen!«
Zur selben Zeit eilte der Inspektor Ulrich Schäfer bereits auf einen Funkwagen zu, der im Hof des Sicherheitsbüros stand. Er startete den Motor und glitt durch einen Torbogen auf die Straße hinaus. Das Unwetter war so arg geworden, daß er, auch mit Licht, kaum etwas erkennen konnte und im Schritt fahren mußte. Plötzlich trat er jäh auf die Bremse. Ein Mann war vor der Kühlerhaube des Wagens aufgetaucht. Fluchend kurbelte Schäfer ein Fenster herunter, um den Passanten anzubrüllen, doch dieser eilte bereits zum rechten vorderen Schlag, öffnete ihn und ließ sich neben den Inspektor gleiten. Er hatte den Hut tief in die Stirn gedrückt und zog jetzt ein dickes Kuvert, einen Bogen Papier und einen Kugelschreiber aus der Tasche.
»Hier«, sagte der Unbekannte. »Hunderttausend Schilling. Keine Zeit, sie nachzuzählen, es stimmt schon. Unterschreiben Sie, daß Sie das Geld empfangen haben.«
Der Inspektor Ulrich Schäfer unterschrieb mit unsicheren Fingern. Der Mann riß ihm Papier und Kugelschreiber aus der Hand und sprang wieder aus dem Wagen. Im nächsten Moment war er in der Dunkelheit verschwunden. Schäfer saß da, das Kuvert in den Händen. Sie haben Wort gehalten, dachte er. Ich habe das ganze Geld. Ich kann das Sanatorium weiter bezahlen. Und vielleicht geschieht ein Wunder, vielleicht finden sie ein Mittel, vielleicht …
Hinter ihm hupten laut Autos.
Der Inspektor Schäfer steckte den Umschlag ein und fuhr im Schritt weiter. Er war erfüllt von lauter Glückseligkeit.
79
Der Sturm heulte um den Wagen, er rüttelte an ihm, er schüttelte ihn.
Der Sturm peitschte die dichten Hagelschauer nun schräg durch die Luft, ließ sie auf Dächer, gegen Hauswände, auf Straßen knallen, wo sie in kürzester Zeit schon einen dicken, körnigen Belag über dem glattgefrorenen Schnee bildeten.
Manuel schaltete die zweite Stufe des Scheibenwischers ein. Die Gummiblätter flogen auf dem Glas hin und her. Es half nicht viel, er sah kaum etwas. Die andauernd zuckenden Blitze blendeten. Der Donner, der ihnen jedesmal folgte, klang gedämpft durch das rasende Prasseln der Eisstückchen auf dem Wagendach.
»Wir hätten Geduld haben müssen, bis das vorbei ist«, sagte Irene, während Manuel in den Rennweg einbog.
»Aber sie hat gesagt, wir sollen sie so schnell wie möglich treffen! Sie wartet doch schon«, antwortete er, weit über das Steuer geneigt. »Außerdem schau, da hinten wird der Himmel hell.«
»Verrückt, im Januar … Aber ich erinnere mich, vor drei Jahren gab es auch so etwas, mitten im Winter …«
Vor vierzig Minuten etwa hatte im Büro der Möven-Apotheke das Telefon geläutet. Manuel saß hier auf einem Stuhl, nahe dem Schreibtisch, er kam von Groll und wollte mit Irene in der Mittagspause essen gehen. Das Telefon schrillte ununterbrochen.
Manuel winkte Irene, die an der Registrierkasse stand. Es befand sich fast ein Dutzend Menschen im Geschäft, viele waren einfach von der Straße hereingeeilt, als das Gewitter losbrach.
Irene kam schnell in das Büro und hob den Hörer ab.
»Möven-Apotheke!« Im nächsten Moment ertönte ein heftiger Donnerschlag. Irene fuhr zusammen. »Wer?« Ihr Gesicht erhellte sich. »Oh, Sie sind es. Guten Tag, Frau Barry!« Irene machte Manuel ein Zeichen.
Er nahm den zweiten Hörer, der auf dem Schreibtisch lag. Brausen, Rauschen und Verkehrslärm klangen an sein Ohr. Mit Mühe verstand er die Frauenstimme.
»… schon im ›Ritz‹ angerufen, aber …« Der Rest war unverständlich.
»Wie?« rief Irene. »Ich verstehe so schlecht! Was sagten Sie?«
»… Herr Aranda nicht im Hotel«, ertönte wieder Bianca Barrys Stimme.
»Nein, er ist hier, bei mir.« Ein besonders greller Blitz fuhr nieder. Der Donner dröhnte. »Was gibt es, Frau Barry?«
»Angst …«
Und Störgeräusche in der Leitung.
»Was?«
»Ich habe solche Angst … Deshalb rufe ich Sie an … Bitte kommen Sie … Kommen Sie …«
»Wohin? Was ist geschehen?« rief Irene.
Die Verständigung war fast unmöglich, Bianca Barrys Stimme völlig verzerrt und immer wieder für Sekunden unverständlich.
»Er hat mir verboten …« Das Folgende ging unter.
»Wer? Was? Ich höre Sie nicht!« schrie Irene. Ein paar Menschen im Verkaufsraum sahen herüber. Manuel schloß schnell die Tür. »Ein Mann … hat mich angerufen … vor zwei Stunden … Roman ist heute und morgen verreist … das muß dieser Mann gewußt haben …«
»Sind Sie zu Hause?«
»Eben nicht mehr! Ich spreche … Telefonzelle … schon in der Stadt … Schwarzenbergplatz …«
»Was machen Sie dort?«
»… dieser Mann hat uns gesehen … als wir in Fischamend waren … Ich bin schuld …«
»Sie? Woran?«
»An allem … habe Sie angelogen …«
»Sie haben uns …«
»Angelogen, ja! Ich konnte einfach nicht die ganze Wahrheit erzählen …«
»Welche ganze Wahrheit?«
»Über Heinz … und seine Mutter … und den Vater von Herrn Aranda …«
»Sie wissen die ganze Wahrheit über die alle?«
»Ja … ja! Aber ich habe sie Ihnen nicht gesagt …«
»Warum nicht?«
»… zu furchtbar … zu schrecklich … selber dabeigewesen …« Blitz. Einschlag. Blitz. Einschlag
»… will mich erpressen … dieser Mann … wenn ich nicht tue, was er sagt … braucht mich … muß es tun … sonst sind Sie in Gefahr … Lebensgefahr …«
»Aber …«, begann Irene verstört.
Manuel nahm ihren Hörer und gab ihr den seinen. Er schrie: »Sie müssen uns die ganze Wahrheit sagen, Frau Barry! Verstehen Sie? Sie müssen sie uns sagen!«
»Das will ich ja … bevor ich den Mann treffe … alles sollen Sie wissen … kommen Sie, kommen Sie, bitte … schnell … er wartet auf mich in einer Stunde … bis dahin …«
»Wo wartet er?«
»Fischamend … ›Merzendorfer‹ … dieses Restaurant …«
»Wie wollten Sie da hinkommen?«
»… Straßenbahn bis Zentralfriedhof … dann Autobus … Ich sage Ihnen alles, bevor ich diesen Mann sehe … Angst …«
Manuel sagte schnelclass="underline" »Wo treffen wir uns?«
»Zentralfriedhof … Haupteingang … Straßenbahnhäuschen …«
»Wir kommen, so schnell wir können«, sagte Manuel. Er legte den Hörer nieder und sah Irene an. »Sie hat uns angelogen! Sie weiß die Wahrheit, die ganze Wahrheit! Jetzt werden wir sie erfahren!«