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»Aber Daniel hat sie doch schon erzählt!«

Blitz. Einschlag. Blitz. Einschlag.

»Vielleicht kennt auch er sie nicht! Wir müssen jedenfalls zum Friedhof … los, komm, schnell …«

Irene, angesteckt von seiner Aufregung, streifte ihren weißen Kittel ab, setzte sich, zog die Seehundfellstiefel an, danach ihren Seehundfellmantel und griff nach der Pelzmütze. Sie liefen in den Verkaufsraum hinaus.

»Ich muß dringend weg!« rief Irene einer Angestellten zu.

»Wann kommen Sie wieder? Wohin …« Das Mädchen brach ab. Irene und Manuel waren schon aus dem Geschäft geeilt.

Eine Minute später fuhren sie bereits durch das Gewitter.

»Bianca Barry! Also sie wußte immer die Wahrheit«, sagte Manuel, mit aller Vorsicht den Wagen lenkend. »Die ganze Wahrheit. Wieso sie? Und wer ist dieser Mann? Was will er von ihr?«

»Ich weiß nicht, Manuel … Achtung! Der Laster!« Er verriß das Steuer. Um Zentimeter vermied er einen Zusammenstoß. »Vielleicht weiß Daniel wirklich nicht alles …«

»Der Mann hat uns in Fischamend beobachtet! Da haben uns auch Leute von Santarin beobachtet. Santarin hat Groll extra angerufen und ihm das zur Beruhigung mitgeteilt. Wer also ist …?«

»Wir werden hören, was die Barry sagt … nicht reden jetzt … Wir haben sonst noch einen Unfall …«

Sie hatten kaum noch geredet auf der langen Fahrt.

Die Simmeringer Hauptstraße schien Manuel endlos.

»Ein Uhr fünfzehn. Sie muß längst da sein. Längst!«

»Wir schaffen es ja, Manuel, beruhige dich … Das Gewitter ist auch schon vorbei …«

Tatsächlich war das Unwetter über diesen Teil der Stadt bereits hinweggezogen, die Wolkendecke hatte sich gelichtet.

Die Häuser wurden kleiner. Zur Rechten erblickte Manuel nun die kilometerlange Mauer des Zentralfriedhofs. Von Hagelschloßen weiß bedeckt waren die schmutzigen Schneehaufen an den Straßenrändern.

»Wir sind da«, sagte Manuel. Er fuhr auf den freien Platz vor dem mächtigen Haupteingang. Ein paar Taxen standen hier, die Chauffeure plauderten. Sonst war kein Mensch zu sehen.

»Wo ist Frau Barry?« fragte Manuel. Das gläserne Wartehäuschen bei der Straßenbahn lag verlassen.

Irene kurbelte ein Fenster herunter und blickte in die Runde.

»Nichts«, sagte sie.

Aus der Pförtnerloge rechts vom geöffneten Portal trat ein Mann und kam winkend, mit strahlendem Lächeln, das seine gelben Zähne entblößte, auf sie zu. Manuel starrte ihn an.

»Wer ist das?« Dann fiel es ihm ein. »Der Pförtner von damals! Als wir uns hier zum erstenmal trafen! Erinnerst du dich?«

»Ja«, sagte Irene. »Und er scheint sich an uns zu erinnern.« So war es.

»Da sind Sie ja, Fräulein! Und der Herr auch!« Der kleine alte Pförtner in seiner dunklen Uniform hob grüßend eine Hand an die Tellerkappe, während er sich zu dem geöffneten Wagenfenster neigte. Das spitze Gesicht war wieder sehr weiß, die Ohren und die Nase waren gerötet, auch die Augen. Nikotinverfärbt hing der Walroßschnurrbart herab. »Hab schon Ausschau gehalten nach Ihnen. Sie sind doch hier verabredet mit einer Dame, gelt?«

»Ja«, sagte Irene. »Woher wissen Sie das?«

»Frau Barry, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte Manuel. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«

Der alte Pförtner nickte.

»Wie sie gekommen ist mit dem Einundsiebziger, da hat es noch mächtig gehagelt. Drüben in das Straßenbahnhäusel ist sie gelaufen, ich hab es gesehen. Dann hat das Sauwetter aufgehört. Sie ist so hin und her gewandert. Und auf einmal ist sie zu mir gegangen und hat gesagt, daß Sie kommen werden, Fräulein Waldegg und Herr … Herr Aman …«

»Aranda.«

»Ja. Aber daß das noch eine Weile dauern wird. Furchtbar nervös war sie. Will hier nicht herumstehen, hat sie gesagt. Sie geht zum Grab von der Frau Steinfeld einstweilen, hat sie gesagt. Und ich soll es Ihnen sagen. Möchten so gut sein und hinkommen. Sie wartet dort.«

»Sie ist zum Grab gegangen?« Manuel neigte sich über Irene und sah den Pförtner an.

»Sag ich doch! Weg hier. Hat hier nicht warten wollen. Weiß nicht, warum. War ja auch wieder vorbei, das Gewitter. Wollen der Herr einen Einfahrtschein?«

»Ja, bitte.«

Dröhnend, schon in den Wolken, brauste eine eben gestartete Maschine über sie hinweg.

Der Pförtner riß einen Schein vom Block. Manuel gab ihm zwanzig Schilling.

»Ich danke vielmals, Herr Baron!« Der Pförtner salutierte wieder. Lächelnd sah er dem Wagen nach, der in die Allee hineinfuhr, welche das Haupttor mit der Dr.-Karl-Lueger-Kirche verband.

80

Die Krähen schrien, die Krähen kreischten, die Krähen krächzten.

Zu Hunderten hockten sie, dicht nebeneinander, in dem kahlen Geäst der alten Bäume an den Alleerändern, groß und scheußlich. Ihr heiseres, lautes Geschrei erfüllte die Luft.

Manuel lenkte den Mercedes um das Rondell vor der Kirche und bog in die Allee, die nach Südwesten ging. Auf den Wegen hatte sich eine neue körnige Eisschicht gebildet. Manuel konnte nur ganz langsam fahren. Noch viel mehr Schnee war gefallen, seit er zum erstenmal hier mit Irene gesprochen hatte. Der Schnee lag auf Gräbern und Grabsteinen, Sträuchern und Büschen, auf den Ulmen, Zypressen, Platanen, den Ahorn- und Kastanienbäumen. Da war sie wieder, die weiße, grenzenlose Wüstenei des Todes …

Manuel sah starr geradeaus, als er sagte: »Irene …«

»Ja?« Auch sie sah nach vorne.

»Ich weiß nicht, was das jetzt wieder zu bedeuten hat, was uns nun bevorsteht. Aber einmal muß das alles doch ein Ende haben, eine Lösung.«

»Ja.«

»Da ist auch noch Nora Hill. Sie will mich um etwas bitten, ich weiß nicht, worum. Ob ich ihren Wunsch erfüllen kann, hängt nun wieder davon ab, was Bianca Barry erzählt, was wir tun müssen danach … mit diesem Mann in Fischamend … was da geschieht … Aber wir werden schon Glück haben … wir haben doch schließlich immer noch Glück gehabt, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Irene, »ja.«

Er umkreiste ein kleineres Rondell, von dem sternförmig Alleen in alle Richtungen strebten. Der Wagen glitt an einer weißgestrichenen Bedürfnisanstalt vorüber. Manuel fuhr den Weg, den er, mit Irene am Steuer, schon einmal gefahren war. Seltsam, dachte er, daß ich ihn mir gemerkt habe.

Hier draußen war kein Mensch mehr zu sehen.

»Und wenn es soweit sein wird, daß wir alles wissen, daß wir anfangen könnten, alles zu vergessen …«

»Ich werde es nie vergessen«, sagte sie.

»Nein«, sagte Manuel, »ich auch nicht.« Er schwieg eine Weile. »Aber da es uns doch beiden geschehen ist«, sagte er dann, »da uns alles, was geschehen ist und geschieht, beide betrifft, würdest du, wenn es vorüber ist … würdest du daran denken können, meine Frau zu werden?«

Sie antwortete nicht.

»Bitte, Irene! Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Ich möchte dann, am Ende, mit dir Wien verlassen und in meiner Heimat mit dir leben …«

Immer noch schwieg Irene.

Plötzlich erhellte Sonnenschein die Schneewüste.

»Irene«, sagte Manuel, während er in die Allee zwischen den Gruppen 73 und 74 einbog, »bitte, Irene, antworte mir. Und wenn du nein sagen mußt. Und wenn du nicht meine Frau werden willst. Und wenn du nicht mit mir kommen willst. Bitte, Irene. Warum sprichst du nicht?«

Erstickt antwortete sie: »Ich kann nicht …«

Er sah schnell zu ihr hinüber und bemerkte, daß sie weinte.

»Irene! Was hast du?«

»Nichts«, sagte sie mühsam. »Gar nichts. Ich bin nur plötzlich so glücklich … trotz allem … obwohl wir nicht wissen, was uns erwartet … Ich bin so glücklich, daß du mich gefragt hast …«

Manuel trat hart auf die Bremse.

Der Wagen glitt zur Seite. Er hob den Gang aus dem Getriebe und wandte sich ihr zu.

»Das heißt …«

»Das heißt ja«, flüsterte Irene. »Ja, ja, ja!«

Manuel lächelte glücklich.

Er legte die Arme um sie. Ihre Lippen berührten sich. Und in der Süße dieses Kusses versanken Ungewißheit und Furcht, Trauer und Schmerz, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für sie beide.