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Die Mündung des Gewehrs befand sich genau über dem goldenen Buchstaben u in dem Wort VOLUPTAS.
Das Gewehr war eine amerikanische ›Springfield‹, Modell 03, Kaliber 7.62 Millimeter, Patronenlänge 75 Millimeter, Gewehrlänge 1250 Millimeter. Es besaß ein Magazin mit zehn Schuß und ein aufgesetztes Zielfernrohr. Dieses inklusive wog die ›Springfield‹ nur 4,3 Kilogramm.
David Parker trug wieder seinen rostbraunen Dufflecoat und schwere Schuhe. Er war so gekleidet wie am Nachmittag des 16. Januar, als er, aus der Luke einer nahen Bedürfnisanstalt, Alphonse Louis Clairon erschoß, der genau da gestanden hatte, wo nun der einundvierzig Jahre alte David Parker stand, nämlich auf einem Hügel hinter dem mannshohen grauen Marmorquader des Grabes der Familie Reitzenstein, das, zwischen tief eingeschneiten Büschen und Hecken, in der Abteilung L 73 lag. Über dem mächtigen Stein gab es einen Sockel, und auf diesem kniete, mit breit ausladenden Flügeln, ein menschengroßer grauer Marmorengel, welcher weinte. Die Hände hielt er vor das Gesicht geschlagen. Der Griff einer gesenkten Marmorfackel war an seiner rechten Hüfte befestigt, ihre Krone auf dem Sockel. In die Vorderseite des Sockels waren in Großbuchstaben, schwer vergoldet, diese Worte eingeschlagen worden:
EST QUAEDAM FLERE VOLUPTAS
Das geschürzte Gewand des Engels ließ unter dem abgewinkelten linken Bein eine dreieckige Öffnung entstehen. David Parker, groß, mit breitem Unterkiefer, viereckigem Gesicht, Sommersprossen und einer kurzen, wulstigen Narbe, welche ihm, unter dem blonden, zu einer Igelfrisur gestutzten Haar über die Stirn lief, hatte jene Öffnung von Schnee gesäubert, wie einst Louis Alphonse Clairon. So besaß er eine Schießscharte für seine ›Springfield‹. Der Lauf berührte als Fixierungspunkt die große linke Marmorzehe des monströsen Engels.
David Parkers Dufflecoat war durchnäßt, der Stoff war schwer geworden. Parker wartete schon seit einer Dreiviertelstunde hier. Er hatte das Ende des Unwetters im Freien überstanden, fluchend, die Kapuze seines Mantels hochgeschlagen und frierend.
Es ging nicht anders. Diesmal wollte er nicht erst im allerletzten Moment zur Stelle sein, diesmal hatte Gilbert Grant ihn rechtzeitig losgeschickt, gleich nachdem diese Frau namens Gerda mit ihrem Telefongespräch fertig gewesen war. Dann hatte er Gerda, die er zum erstenmal sah, im Wagen mitgenommen bis zu einer Straßenbahnstation auf der Simmeringer Hauptstraße. Er mußte warten, während sie in einer Telefonzelle ein Gespräch führte. Gerda sollte die Tram benützen für das letzte Stück des Weges, das war ihr eingeschärft worden von Gilbert Grant, diesem Versoffensten aller Auftraggeber. Eine Fahne hatte der Kerl wieder mal gehabt, eine Fahne!
Parker schüttelte sich angewidert, als er daran dachte, wie Grant ihm in dem Büro am Ende der riesigen Lagerhalle der Firma AMERICAR seine Aufgabe zu erläutern versucht hatte. Er war zu aufgeregt gewesen, der Süffel, um richtig reden zu können. Ein höchst elegant gekleideter Russe, Sartorin oder so ähnlich – Parker hatte den Namen nicht verstanden –, mußte den Scharfschützen richtig ins Bild setzen und ihm genau sagen, was er zu tun hatte.
David Parker wußte, daß eine Panne passiert war, daß es nun um sehr viel ging, daß er nicht versagen durfte. Ich werde schon nicht versagen, dachte er. Ich habe noch nie versagt.
Parker war bereits einige Zeit in Wien, Grant hatte ihn aus New York hergerufen.
»Routine. Wir wollen dich jetzt nur hier haben. Es wird gar keine Arbeit geben, wir erledigen diese Sache ganz friedlich. Reine Sicherheitsmaßnahme.«
Offenbar eine kluge Sicherheitsmaßnahme, denn plötzlich, sehr, sehr plötzlich, sollte diese Sache nun durchaus nicht friedlich erledigt werden, Parker ahnte nicht, weshalb. Er fragte auch nicht. Er fragte nie, er wußte, daß seine Bosse ihm doch nie die Wahrheit sagten. Grant hatte ihm wieder den großen weißen Lincoln gegeben, den er das letzte Mal benutzt hatte, aber diesmal war Parker vorsichtshalber durch Tor III in den Friedhof eingefahren. Vielleicht tat am Hauptportal der Pförtner von damals Dienst und erkannte ihn. Parker hatte seinen Wagen auch ein weites Stück entfernt stehenlassen und war zu Fuß hierhergegangen.
Clairon hat sich damals einen idealen Ort ausgesucht, dachte der Amerikaner. Wirklich den besten weit und breit. Ob er immer noch hier liegt, unter dem vielen Schnee? Parker trat ein paarmal hin und her. Er glaubte, hartgefrorene Unebenheiten festzustellen. Ich stehe auf ihm, dachte er.
Der Gedanke erheiterte ihn.
Parker sah die Allee hinauf.
Immer noch nichts.
Nun, der Wagen würde schon kommen. Es freute Parker, daß plötzlich die Sonne schien. Er dachte an die nicht mehr ganz junge Frau namens Gerda in dem kleinen Raum mit der Stahltür, in dem dieser Russe und dieser aufgeschwemmte Grant vor dem Kurzwellensender gesessen und einen regen Funkverkehr geführt hatten, den sie abbrachen, bevor Gerda, die gewiß ganz anders hieß, ihr Telefongespräch anfing.
Komisches Gespräch. Mit einer Frau Barry oder so ähnlich. Gerda tat, als wollte sie unbedingt ein Bild kaufen – diese Frau Barry, wer immer das war, mußte mit einem Maler verheiratet sein und alle seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigen. Es wurde eine lange Feilscherei, dann versprach Gerda, jene Frau aufzusuchen.
Sie hängte ein.
»Hat es genügt?« fragte der Russe.
»Vollkommen.« Gerda nickte.
»Lassen Sie hören!«
Daraufhin begann Gerda, während draußen das Gewitter losbrach, mit einer völlig anderen Stimme zu reden – sie ahmte ohne Zweifel Frau Barry nach. Gerda schien eine Spezialistin für das Imitieren von Stimmen zu sein.
»Ausgezeichnet! Sie fahren also los! In der Simmeringer Hauptstraße gehen Sie in eine Telefonzelle und rufen die Apotheke an. Aranda ist immer noch dort mit der Waldegg, melden unsere Wagen. Sie wissen, was Sie zu sagen haben?«
»Ja.«
»Warten Sie, bis das Gewitter ganz arg geworden ist. Möglichst viele Geräusche von Blitzen in der Leitung! Donner, Krach, Störungen, das ist wünschenswert.« Der Russe wandte sich an Parker. »Sie bleiben solange vor der Zelle.« Er sagte zu Gerda: »Und Sie rufen gleich hierher zurück und melden, ob es geklappt hat.«
»Ja.«
»Hat es geklappt, sagen Sie es Parker. Der fährt zum Grab und erledigt alles wie besprochen.«
»Wenn dieses Wetter aber zu lange so weitergeht«, sagte Parker, »dann kann Gerda nicht in den Friedhof hineinmarschieren. Und was geschieht dann mit den beiden?«
»Das Wetter wird gut sein«, sagte Grant, etwas ruhiger. »Wir haben Wagen auf der Autobahn bei Sankt Valentin und bei Preßbaum. Sankt Valentin ist schon klar. In Preßbaum regnet es nur noch schwach. Das Gewitter zieht genügend schnell über den Wienerwald und die Stadt nach Nordosten.«
»Na schön, mir soll’s recht sein.«
»Alle Wagen sind im Einsatz rund um den Friedhof. Wenn du die geringsten Schwierigkeiten hast, melde dich sofort über Funk. Wir bleiben dauernd auf Empfang.«
Nun, es waren keine Schwierigkeiten aufgetreten, dachte Parker. Gerda hatte die Telefonzelle verlassen – da tobte das Gewitter noch mit größter Stärke – und ihm gesagt, er solle losfahren.
Also hat sie die Stimme dieser Barry offenbar gut nachgemacht und damit erreicht, daß die beiden, um die ich mich kümmern muß, nun herkommen, dachte Parker. Zum Abschied haben wir uns noch Glück gewünscht. Gerda hat gesagt: »Ich gehe beim Haupteingang hinein und dann gleich wieder durch das dritte Tor hinaus. Sie fahren durch das dritte Tor.«
»Okay.«
Im Rückspiegel hatte Parker diese Gerda noch einmal betrachtet. Kaum geschminkt, schlank, bestens gebaut. Sicherlich noch keine vierzig. Meine Kragenweite, hatte er gedacht. Sah prima aus in dem hellen Nerz und den hellen Stiefeln. Mit beiden Händen hielt sie einen Regenschirm fest, der umzuklappen drohte.
Diese Bianca Barry muß auch einen solchen Nerz und solche Stiefel haben, überlegte Parker. Gerda soll meine Kunden doch hierherlocken. Bevor sie in den Friedhof hineingeht, wird sie mit dem Portier ein wenig quatschen und sagen, daß die beiden zum Grab kommen mögen. Da könnten die dann fragen, wie die Dame gekleidet war. Gute Organisation. Was dieses versoffene Wrack von einem Grant noch fertigbringt. Ohne den Russen wäre er natürlich verloren …