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Ah, old Vienna!

Ja, dachte Manuel, es geht wirklich eine Verzauberung aus von dieser Buchhandlung, selbst von ihrer Beleuchtung! Große gelbliche Milchglaskugeln hingen an langen Bronzestäben und verbreiteten ein warmes, heimeliges Licht.

»Sie wollten mich sprechen, mein Herr?« sagte eine sanfte, leise Stimme. Manuel, dessen Blicke weiter durch die Buchhandlung gewandert waren, sah zur Seite. Hier stand ein Mann, der sich ängstlich verbeugte. »Ich bin Martin Landau«, sagte der Mann. Er war mittelgroß, hatte ein schmales, blasses Gelehrtengesicht, ergrautes Haar, langfingrige Hände und sehr kleine Füße.

Nach Angabe des Hofrats war Martin Landau sechsundsechzig Jahre alt. Er wirkte älter. Sehr schlank, mager beinahe, und tadellos, wenn auch seltsam altmodisch angezogen, hatte er sanfte, stets erschrocken aussehende graue Augen und machte einen übersensiblen Eindruck. Die linke Schulter hielt er ständig hochgezogen, den Kopf leicht nach links geneigt, und die blassen Lippen waren zu einem furchtsamen Lächeln verzogen. »Dieser Mann«, hatte Groll gesagt, »besteht aus Angst, Sie werden es sehen. Er fürchtet sich vor allen realen und irrealen Dingen, vor seiner Umgebung, vor der Gegenwart, vor der Zukunft, vor fast allen Menschen. Das mit der Schulter, dem schiefen Kopf und dem ewigen Lächeln sind Ticks von ihm. Er hat noch mehr. Zum Beispiel wäscht er sich, wie eine Verkäuferin uns erzählte, bis zu zwanzigmal am Tag die Hände.«

»Ist er verrückt?«

»Nicht mehr als wir alle. Vielleicht ein wenig wunderlich. Er mußte seine Aussage unterschreiben. Da ließ er die Feder ohne jeden Druck über das Papier gleiten. Seine Schrift ist winzig klein, fast unleserlich. Er schreibt immer so, ich habe Briefe gesehen. Wenn er spricht, kann man ihn schwer verstehen, derart leise redet er – und derart undeutlich. Das soll er auch stets getan haben. Jetzt werden seine Angewohnheiten immer stärker. Bei allen Menschen ist das so, daß sich ihre Grundanlage im Alter mehr und mehr ausprägt.«

Nun ja, da stand also einer, der mit den Jahren noch viel mehr das geworden war, was er immer dargestellt hatte. Er rieb die Hände ineinander, während er Manuel, ängstlich lächelnd, ansah. Herr Landau brauchte nicht einmal mehr Wasser und Seife für seinen Tick, dachte Aranda und sagte halblaut: »Sie können sich gewiß denken, warum ich zu Ihnen komme. Mein Vater …«

Sofort unterbrach ihn Landau, indem er erregt murmelte: »Bitte, nicht hier. Sie sehen doch, immerhin … alle diese Leute. Wenn Sie mir folgen wollen …« Er eilte schon voraus, dabei seinen Kunden zunickend, sich verneigend, Hände reibend.

Manuel folgte ihm durch den Laden zu einem Gang in einer seitlichen Bücherwand, der zu den Magazinen führte. An den Seiten gab es Regale voller Taschenbücher. Manuel schritt weiter und sah nun links einen sehr großen Raum mit mächtigen Tischen, auf denen sich Büchergebirge stapelten. Sie stapelten sich auch auf dem Boden, manchmal zwei Meter hoch. Alle Wände waren von Büchern verdeckt. Der Gang führte weiter. Manuel blickte in einen zweiten Magazinraum. Hinter diesem befand sich ein dritter. Die Magazine waren, wie das Haus, uralt, sie glichen Gewölben, mit kleinen Rundbögen als Durchlässen, und großen, weit geschwungenen, welche die Decke stützten. Rechts beim Ende des kurzen Ganges befand sich eine Maueröffnung ohne Tür. Die Mauer war einen halben Meter dick und schwarz vor Alter. Hinter der Öffnung erblickte Manuel ein kleines Zimmer, in das Martin Landau lautlos hineingeeilt war.

»Bitte, treten Sie näher, Herr Aranda«, murmelte er leise und lächelnd, die Schulter hochgezogen, den Kopf schief gelegt.

Manuel erstarrte einen Moment, als er dieses Hinterzimmer sah.

Das ›Teekammerl‹, dachte er.

In diesem Teekammerl war vor einer Woche sein Vater ermordet worden.

16

Teekammerl …

Ein Hinterzimmer wie dieses gab es in vielen Geschäften. Hier konnte man telefonieren, Freunde empfangen, Kaffee kochen, sich während der Mittagspause ausruhen, Zeitung lesen, schlafen.

Das Teekammerl war recht vollgeräumt. Es besaß keine Fenster. Auch hier waren alle Wände von Regalen verdeckt, und Bücherrücken leuchteten im Schein einer alten, grünbeschirmten Leselampe, die auf einem alten Schreibtisch stand. Rot und blau, golden und braun, grün, silbern und weiß leuchteten sie.

Neben dem Schreibtisch stand ein altes Ledersofa, abgewetzt, mit Mulden, ein paar Kissen und eine zusammengelegte Decke darauf. Manuel dachte an das Sofa in Grolls Büro. Am Kopfende des Diwans stand ein Tischchen, darauf ein großer alter Radioapparat. Tatsächlich schien der einzige moderne Gegenstand, den Manuel erblicken konnte, ein niedriges, schwarzes Telefon auf dem vollgeräumten Schreibtisch zu sein. Das war dem verängstigten Mann wohl aufgezwungen worden, die Post hatte wahrscheinlich den alten Apparat einfach abmontiert.

Einen abgetretenen Teppich gab es im Teekammerl. Auf ihm hat mein Vater gelegen, dachte Manuel. In Krämpfen. Schaum vor dem Mund. Um sein Leben kämpfend – vergebens. Das Gift war stärker gewesen. Da lag mein Vater, da stehe jetzt ich, dachte Manuel. Er mußte sich an einem Bücherbord festhalten, denn das Schwindelgefühl war nun sehr heftig. Vor dem Schreibtisch stand ein alter Lehnstuhl. In ihm hat Valerie Steinfeld gesessen, dachte Manuel, während der kleine Raum sich sanft um ihn drehte; da saß sie, die Mörderin meines Vaters, trank Cognac und telefonierte mit der Polizei. Und dann nahm sie Gift. Und dann lag auch sie auf dem Teppich, neben meinem Vater …

»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Landau. Manuel setzte sich auf einen wackeligen Schaukelstuhl mit beschädigtem Bastgeflecht. Landau glitt in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch. Dieser Mann verursachte kaum Geräusche. »Oh, wie taktlos von mir! Hätte ich gleich tun müssen! Ich möchte Ihnen zu Ihrem furchtbaren Verlust mein aufrichtiges Mitgefühl aussprechen«, sagte Landau leise und fast ohne die Lippen zu bewegen, mit dem schiefen Kopf, mit dem ewigen Lächeln. Es sah gespenstisch aus. Manuel nickte nur.

»Wir können es alle immer noch nicht fassen«, sagte Landau. Er sprach sehr leise und undeutlich: »Ich habe Frau Steinfeld seit 1921 gekannt. Achtundvierzig Jahre immerhin, stellen Sie sich das vor. Ich dachte, ich würde sie kennen wie sonst nur meine Schwester. Und nun … nun tut sie so etwas … so etwas Entsetzliches, Sinnloses …«

»Es kann nicht sinnlos gewesen sein«, sagte Manuel.

»Bitte?« Landau schrak zusammen.

»Frau Steinfeld war nicht verrückt. Also kann das, was sie tat, nicht sinnlos gewesen sein. Es muß einen Sinn gehabt haben. Aber welchen?«

»Das weiß ich nicht!« Martin Landau preßte plötzlich beide Ellbogen gegen die Platte des vollgeräumten Schreibtisches, der eine Rückwand mit zahlreichen Schubladen besaß. Auf dem Schreibtisch erblickte Manuel, während er wie gebannt die heftig zitternden schmalen Hände Landaus betrachtete, eine Unmenge von Dingen: Verlagskataloge, ein Telefonbuch, eine alte Schreibmaschine, Briefe und Rechnungen, aufgespießt auf einen antiken Dorn, einen Aschenbecher, Pfeifen, eine holländische Tabaksdose, geblich-weiß, mit verblichenen blauen Malereien, Bleistifte, Radiergummis, Federhalter, ein Tintenglas mit Klappdeckel, ein Hufeisen, ein zu einem winzig kleinen Reh geformtes Stückchen Blei, ein seltsam verkrümmtes Stück Treibholz, ausgewaschen und hell, irgendwann aus irgendeinem Meer gefischt, an irgendeinem Strand gefunden. Talismane müssen das sein, dachte Manuel. Es gab noch mehr: eine dunkle kleine Ikone, einen wasserklaren Bergkristall, ein Stück Bernstein, darin eingeschlossen ein Insekt sowie Blatt- und Blütenreste, einen kleinen schwarzen Spielzeug-Stier, ein – es ist nicht zu fassen, dachte Manuel – in völlig verblichenes Papier verpacktes Stück Seife, SUNLICHT stand darauf in grau-roter Schrift, ›1915‹ stand in graublauer Schrift an einer Ecke, ›15 Heller‹, an einer anderen; ›Gott mit Uns‹, stand am Rande. Eine Seife aus dem Jahre 1915. Eine vierundfünfzig Jahre alte Seife.