Manuel dachte verblüfft: Dieses Stück SUNLICHT ist achtundzwanzig Jahre älter als ich!
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»Sie wissen nicht, welchen Sinn das hatte, was Frau Steinfeld tat. Aber Sie haben doch gewiß darüber nachgedacht?«
»Natürlich.« Landaus Hände zitterten noch immer. Warum? dachte Manuel. Worte des Hofrats kamen ihm in Erinnerung. »Dieser Landau weiß etwas. Sie wissen alle etwas. Aber sie sagen es nicht, sie sagen es nicht …« Verflucht, dachte Manuel, er wird es mir sagen, dieser Neurotiker, dieser alte Feigling. Und wenn ich ihm die Knochen brechen muß. Er wird reden.
»Natürlich, aha. Und?«
»Wir denken Tag und Nacht darüber nach, Herr Aranda. Immerhin … Wir …«
»Wer ist wir?«
»Meine Schwester und ich. Wir wohnen zusammen, draußen in Hietzing. Im Hause unserer Eltern. Nur wir beide … Und wir reden von nichts anderem und denken an nichts anderes mehr: Warum hat Valerie es wohl getan? Immerhin … Wir finden keine Erklärung! Nicht die Spur einer Erklärung, nicht den Schatten eines Verdachts …« Er blickte zu einem alten Gasrechaud, der in einer Ecke stand. Nebem dem Rechaud befand sich ein Spülbecken mit Schutzblech und einem Wasserhahn aus Messing. Blech und Becken waren einmal weiß emailliert gewesen. Was nun noch an Emaille vorhanden war, hatte alle Farben, nur nicht Weiß. Rost war da und ein bißchen Grünspan am Gewinde des Wasserhahns. Schmutziges Geschirr lag im Becken. Altes, angebrochenes Geschirr stand auf einem Wandbord. Ein zweites Bord hing über dem Hahn, ein halbblinder Spiegel.
»Herr Landau, Sie sagten, Sie hätten Frau Steinfeld seit 1921 gekannt. Seit 1938 hat sie hier gearbeitet – einunddreißig Jahre lang. Und da haben Sie bei allem Nachdenken keine Vorstellung, warum sie tat, was sie tat, nicht den Schatten eines Verdachtes haben Sie und Ihre Schwester?«
»Nein, ich sage Ihnen doch, nein!« Landau flüsterte die Worte. »Denken Sie, ich würde es Ihnen nicht sagen, wenn ich etwas wüßte?«
»Ja. Ich denke, Sie würden es mir nicht sagen. Ich denke, Sie wissen sehr viel und sagen nichts. Warum nicht, Herr Landau?«
»Hören Sie, immerhin …«
»Warum belügen Sie mich? Warum haben Sie die Polizei belogen? Was verbergen Sie, Herr Landau?«
»Leiser! So seien Sie doch leiser! Immerhin … Man hört Sie ja im Verkaufsraum!« flehte der Buchhändler. Immer noch hing dieses hilflose Lächeln um seine Lippen, er bekam es nicht weg, er hatte zu lange hilflos gelächelt in seinem Leben, nun mußte er weiterlächeln bis zum Tod. »Ich verstehe ja Ihre Erregung, aber ich schwöre Ihnen, ich habe keine Ahnung!«
»Wenn Sie schwören, daß Sie keine Ahnung haben …«
18 Uhr 12 Minuten und 31 Sekunden war es in diesem Moment genau.
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Genau um 18 Uhr 12 Minuten und 31 Sekunden begann dieser nur für Sender und Empfänger verständliche Funk-Sprech-Verkehr: »Olymp, ich rufe Olymp, hier ist Nummer Acht. Bitte kommen.«
»Sprechen Sie, Nummer Acht. Wo befinden Sie sich?«
»Am Weichseltalweg, Chef. Neben der alten israelitischen Abteilung. Wir sind über ein paar Mauern wieder herausgeklettert. Genauso wie hinein.«
»Ihr habt Nummer Eins also nicht gefunden?«
»Nein, Chef. Wir haben gesucht, wo wir nur konnten. Mit Taschenlampen und Handscheinwerfern. Nichts. Dieser verfluchte Schnee! Hier schneit es wie irre. Keine Spur von Nummer Eins. Was sollen wir tun, Chef?«
»Suche abbrechen. Es gilt sofort Alarmstufe Rot – für alle. Etwas ist im ›Ritz‹ passiert. Wir wissen immer noch nicht, was. Nummer Null meldet sich nicht mehr.«
»Kann es ihn erwischt haben?«
»Ich weiß nicht, Herrgott, ich weiß nicht! Ihr müßt weg – augenblicklich. Viel zu gefährlich. Wenn Sie Nummer Eins entführt haben, werden wir das zu hören bekommen – hoffentlich. Wenn er liquidiert wurde, kann ihm keiner mehr helfen.«
»Und wenn er nur verwundet ist?«
»Dann hätte er gerufen, gestöhnt, was weiß ich. Liegt er tot da, ist er bis morgen früh tief eingeschneit. Es darf sich ab sofort niemand von uns mehr da draußen sehen lassen. Fahren Sie zurück in Richtung Zentrum. Bleiben Sie ständig auf Empfang. Alle Wagen sind im Einsatz. Rechnen Sie jeden Moment mit dem Schlimmsten.«
»Dem Schlimmsten?«
»Ja! Ja! Ja! Ich … ich tue es auch. Wir müssen jetzt die Nerven bewahren. Nerven bewahren … das müssen wir. Wir haben auch die Spur von Aranda verloren. Alle Wagen konzentrieren sich um das Gebiet des ›Ritz‹.«
»Verflucht, was für eine – verstanden, Olymp. Oh – wo ist der Wagen von Nummer Eins, Chef? Den haben wir auch nirgends finden können.«
»Nummer Drei hat ihn gefunden. Knapp vor siebzehn Uhr. Sie kamen eben noch mit beiden Autos aus dem Friedhof heraus, bevor er geschlossen wurde …«
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18 Uhr 12 Minuten 32 Sekunden.
Manuel Aranda sprach seinen Satz weiter »… warum Valerie Steinfeld meinen Vater vergiftete, dann schwören Sie falsch!« Auf einmal packte ihn die wilde Wut über diesen Jämmerling. Er neigte sich vor. Landau wich in seinem Stuhl so weit zurück, wie er konnte. Manuel dachte: Ich muß weitermachen. Nicht lockerlassen jetzt. Er sprach Landau direkt ins Gesicht: »Sie wissen alles über Valerie Steinfeld.«
»Ich …«
»Sie kennen Ihr Leben! Sie wissen, was sie in ihrem Leben erfahren und getan hat. Oder wollen Sie das leugnen?«
»Nein! Das heißt ja! Ja, das will ich! Ich weiß es nicht! Valerie war meine Angestellte. Immerhin … ihr Privatleben ging mich nichts an.«
Manuel hetzte jetzt, schneller und schneller.
»Sie kannten sie doch schon, lange bevor sie Ihre Angestellte wurde. Siebzehn Jahre lang! Woher?«
»Sie … war eine unserer alten Stammkundinnen.«
»Kannten Sie auch ihren Mann?«
»Nein.«
»Siebzehn Jahre lang kam Frau Steinfeld als Kundin zu Ihnen – und niemals ihr Mann?«
»Doch, natürlich kam der auch manchmal … Aber … aber … das kann man doch nicht kennen nennen, immerhin!« Immerhin – das schien Landaus Lieblingswort zu sein.
»Sie lügen schon wieder! Sie waren miteinander befreundet!«
»Wer sagt das?«
»Ich!«
»Ach, Sie? Beweisen Sie mir das! Beweisen Sie es doch!« Landau verfärbte sich jetzt, sein Gesicht wurde gelblich, der Atem ging keuchend. Manuel gönnte ihm keine Ruhe.
»Warum hat Frau Steinfeld bei ihnen zu arbeiten begonnen?«
»Sie … sie … sie …«
»Na!«
»Sie wollte eben arbeiten!«
»War sie gelernte Buchhändlerin?«
»Nein …«
»Warum haben Sie sich die Mühe gemacht, ihr alles beizubringen? Warum haben Sie nicht eine Fachkraft engagiert?«
»Ich wollte ihr einen Gefallen tun!« Landau hielt sich eine zitternde Hand vor den Mund.
»Sie bat Sie also darum?«
»Nein … sie wollte nur gerne …«
»Was? Was wollte sie gerne?«
»In einer Buchhandlung arbeiten.«
»Weshalb? War ihr Mann arbeitslos?«
»Nein …«
»Welchen Beruf hatte er?«
»Ich … ich weiß nicht …«
Manuel stand auf. Landau stieß einen leisen Schrei aus. Manuel neigte sich über ihn.
»Sie wissen nicht, welchen Beruf Herr Steinfeld hatte?«
»Ja, doch, ich weiß es … Er war Sprecher … bei Radio Wien.«
»Und seine Frau ließ er bei ihnen arbeiten?«
»Ja! Ja!« Landau rang nach Luft. Ich kriege ihn soweit, dachte Manuel, ich kriege ihn soweit. Jetzt versuche ich es.
»In welcher dieser Schreibtischladen lagen die Giftkapseln?«
Er hatte tatsächlich Erfolg.
Keuchend wandte Landau sich seitwärts und wies auf die unterste linke Schublade des Aufbaus.
»Das wußten Sie also!«
Kläglich rief Landau: »Ich habe sie hundertmal, tausendmal, gebeten, die Kapseln wegzuwerfen! Sie hat es nicht getan …«