»Ich verstehe nicht, was das …«
»Sagen Sie es!« Grolls Stimme hob sich.
Manuel zuckte die Achseln und sagte es.
Der Graf stöhnte. Groll meinte ausdruckslos: »Um ein Haar hätte es tadellos geklappt, und niemand wäre je in Verdacht geraten.«
Der Graf begann in seiner leicht trippelnden Art hin und her zu eilen – von den nun geschlossenen roten Damastvorhängen zu der Stehlampe mit dem Seidenschirm und wieder zurück. Er hustete. Er schien an einem Katarrh zu leiden.
»Herr Hofrat« sagte Manuel, »bitte, was ist geschehen?«
»Um das«, erklärte Groll, eine Virginier in Brand setzend und blaue Rauchwolken paffend, »zu beantworten, hm, muß ich, hm, selber eine Frage stellen, hm, hm.« Der Graf hustete verärgert und ostentativ. Groll sah ihn sanft an. Romath zuckte die Schultern und eilte weiter zwischen Fenster und Lampe hin und her. Groll betrachtete die Zigarre wohlgefällig. Er fuhr fort: »Als man Ihnen gestern in der Sensengasse alles aushändigte, was Ihr Vater am Leib trug, erhielten Sie da auch einen Schlüsselbund?«
»Nein. Oder ja, doch, natürlich! Er kam in den Karton, mit allen anderen Sachen.«
Der Graf hustete und stöhnte. Und eilte weiter hin und her.
»Wann bekamen Sie den Karton?«
»Heute früh um zehn. Zusammen mit dem Sarg.«
»Was machten Sie mit dem Karton?«
»Ich stellte ihn in den Kofferraum meines Wagens. Hören Sie, diese ganze …«
»Wie lange blieb der Karton im Kofferraum?« fragte Groll, ruhig und freundlich.
»Bis … bis ich von der Spedition zurück ins Hotel kam. Bis Mittag.«
»Und dann?«
»Dann bat ich einen Pagen, den Karton in mein Appartement zu bringen. Ich fuhr nur schnell hinauf, um mir vor dem Essen die Hände zu waschen.«
»Und während Sie das taten, brachte der Page den Karton?«
»Nein. Ich war schon wieder auf dem Gang und dem Weg zum Lift, da begegneten wir uns erst. Wollen Sie jetzt nicht endlich …«
»Sofort. Gingen Sie nach dem Essen, bevor Sie zum Zentralfriedhof fuhren, noch einmal in Ihr Appartement?«
»Nein. Nur in das Café nebenan. Mein Mantel hing in der Garderobe.«
»Demnach haben Sie den Karton mit den Sachen Ihres Vaters zuletzt kurz vor Mittag gesehen. Auf dem Flur oben.«
»Ja!«
»Das ist das Ende«, stöhnte der Graf Romath hustend. »Das absolute Ende …«
»Sehr geschickt gemacht«, meinte der Hofrat anerkennend, als hätte er den Direktor überhaupt nicht gehört.
»Was ist mit dem Karton? Wurde er gestohlen?« rief Manuel.
»Er steht in Ihrem Salon. Die Plomben, mit denen die Kupferdrähte gesichert waren, sind entfernt, die Drähte geöffnet worden. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, befänden sich längst wieder Plomben an den geschlossenen Drähten. Man hätte nie etwas gemerkt.«
»Was heißt: nie etwas gemerkt? Der Karton ist also geöffnet worden?«
»Ich glaube, das deutete ich gerade an«, sagte Groll. Er schien den Grafen reizen zu wollen, denn er blies ihm eine Tabakwolke direkt ins Gesicht. Der Hoteldirektor sah Groll bebend an, wandte sich ab und eilte zurück zu den Damastvorhängen bei den Fenstern. Er murmelte, von Husten unterbrochen: »Wenn ich einen Verdacht … Verdacht gehabt hätte, mein Gott, nur den … nur den kleinsten Verdacht …«
»Sie hatten aber keinen, wie?« Groll befeuchtete innig vertieft das Mundstück seiner Virginier.
Der Graf fuhr herum.
»Hören Sie, Herr Hofrat, falls Sie etwa sagen wollen, daß ich …«
»Ich will gar nichts sagen. Regen Sie sich jetzt nicht auf, Graf. Die Zeit, sich aufzuregen, wird noch kommen«, meinte Groll, weiter provozierend. Romath starrte den rundlichen Kriminalisten an. Dann murmelte er etwas Unverständliches und begann wieder hin und her zu eilen. Wie ein Tier im Zoo, hinter Gittern, dachte Groll. Typischer Streß. Sorge um das Hotel allein kann das nicht sein. Ich werde noch darauf kommen, was den Grafen so beunruhigt. Ich habe schon eine recht gute Vorstellung davon. Manuel sagte wütend und laut: »Warum hat man den Karton geöffnet? Herr Hofrat, bitte!«
»Man nahm etwas heraus, das benötigt wurde, lieber Herr Aranda.«
»Was?«
Groll griff in eine Jackentasche seines Flanellanzugs.
»Das da«, sagte er und legte einen Schlüsselbund auf den Schreibtisch des Direktors. Manuel blickte verständnislos von einem der Männer zum anderen. »Der Bund Ihres Vaters. Der, den Sie in der Sensengasse erhielten. Das ist er doch, wie?«
»Ja, das ist er. Ich erkenne ihn an dem lederüberzogenen Ring.«
»Es ist der Bund Ihres Vaters«, sagte Groll, »aber es gehören nicht alle Schlüssel zu ihm. Der da …«, er hielt einen bizarr gezackten kurzen Yale-Schlüssel in die Höhe, »… der da gehörte nicht zu ihm, Herr Aranda. Der gehört dem Hotel. Ich konnte eben noch verhindern, daß großes Unheil mit ihm angerichtet wurde.«
»Was heißt großes Unheil? Wieso sind Sie überhaupt hier? Wie kommen Sie hierher?«
»Ich«, sagte Groll, »erhielt den Anruf eines alten Bekannten …«
21
»Hier spricht Nora Hill.« Die Frauenstimme klang tief und fast heiser aus der Membran des Telefonhörers, den Groll an sein Ohr hielt.
»Küß die Hand, gnädige Frau. Das ist aber eine Freude! Endlich denken Sie wieder einmal an mich. Seit der Entführung dieses Jugoslawen im Oktober haben Sie nichts mehr von sich …«
»Hören Sie, Herr Hofrat, die Sache ist eilig. Sie kennen doch Manuel Aranda.«
»Ja. Und?« Groll sah auf seine Armbanduhr. Es war 13 Uhr 15.
»Aranda wird um zwei Uhr das ›Ritz‹ verlassen. Sehen Sie zu, daß Sie und ein paar Ihrer Beamten um diese Zeit in der Hotelhalle sind, und achten Sie auf das, was der stellvertretende Receptionschef dann tut.«
»Der stellvertretende …«
»Ja. Der Chef hat Urlaub. Sein Vertreter ist fünfundvierzig Jahre alt, schlank, groß und hat graumeliertes Haar. Ein Franzose. Pierre Lavoisier heißt er. Auffallend helle Augen. Wenn er in den Tresorraum geht, folgen Sie ihm unter allen Umständen!«
»Warum?«
»Das werden Sie schon sehen. Es hängt mit dem Fall Aranda zusammen. Auf das Innigste. Für heute nachmittag ist da der große Coup geplant.« Die Stimme der Frau, die Nora Hill hieß, klang sehr überlegen. »Wenn Sie – und vor allem die Staatspolizei – in dieser Sache weiterkommen wollen, tun Sie, was ich sage.«
»Gnädige Frau, Männer der Staatspolizei haben in letzter Zeit sehr häufig die Herren Gilbert Grant und Fedor Santarin bei Ihnen draußen vorfahren gesehen. Darf ich annehmen, daß Sie im Auftrag dieser beiden Herren sprechen?«
»Sie dürfen annehmen, was Sie wollen, Herr Hofrat. Haben wir in der Vergangenheit nicht immer ausgezeichnet zusammengearbeitet?«
»Ausgezeichnet«, bestätigte Groll.
»Haben Sie nicht immer die besten Informationen von mir bekommen?«
»Gewiß doch.« Groll räusperte sich. »Amerikaner und Russen arbeiten also auch wieder einmal zusammen. Muß eine wichtige Sache sein.«
»Eine außerordentlich wichtige.«
»Und der gemeinsame Gegner ist Frankreich?«
»Tun Sie nicht so unschuldig. Sie haben doch längst Ihre eigenen Vermutungen.«
»Vermutungen natürlich, gnädige Frau. Aber ich wollte gerne Gewißheit. Worum es geht, das ahnen Sie natürlich nicht.«
»Nein. Ehrlich! Alles erfahre ich auch nicht. Das ist Ihnen doch bekannt.«
»Das ist mir bekannt. Ich danke Ihnen sehr, gnädige Frau. Und falls ich wieder einmal etwas tun kann, Sie wissen ja – ich bin immer für Sie da.«
»Es gibt ein Mädchen, das ist in gewissen Schwierigkeiten.«
»Wieder Rauschgift?«
»Ja, leider.«
»Können die jungen Damen nicht ein wenig vorsichtiger sein?«
»In diesem Beruf? Ich will Sie jetzt nicht aufhalten, Herr Hofrat. Wenn ich Sie vielleicht morgen um diese Zeit anrufen dürfte …«
»Selbstverständlich, gnädige Frau. Und ich werde sehen, was sich machen läßt – wie immer. Küß die Hand.«