Ein Glück, daß ich mit Ketten fahre, dachte Clairon. Nach den katastrophalen Schneefällen der letzten Tage war es offenbar nur unter größten Anstrengungen gelungen, wenigstens die viele Kilometer langen Hauptalleen und -chausseen zu räumen. Die Nebenstraßen und alle Wege, die in den Gruppen von Abschnitt zu Abschnitt führten, versanken in halbmeterhohem Schnee. Räumpflüge hatten kleine Gebirge der weißen Bedrohung gegen die Ränder der Alleen geschoben, die kaum begehbar und schwierig befahrbar waren, denn die Streukolonnen kamen in ihrer Arbeit nicht nach.
»Olymp ruft Nummer Eins … Olymp ruft Nummer Eins …«
»Hier ist Nummer Eins, Olymp. Kommen Sie!«
»Aranda hat das Restaurant verlassen und ist in das Kaffeehaus hinübergegangen. Er trinkt seinen Kaffee dort. Jetzt Zeitvergleich, bitte, Nummer Eins!«
Clairon sah auf seine Armbanduhr.
»13 Uhr 34.«
»13 Uhr 34, richtig.«
Was für ein elendes Getue, jedesmal von neuem, dachte Clairon. Gott, habe ich das alles satt! Aber was soll ich machen? 1961 war ich bei der OAS, dieser ›Terrororganisation‹, wie man sie nannte. Nun gut, sehr fein ging es nicht zu bei uns. Was ich heute kann, habe ich damals gelernt. Schließlich war es auch nicht sehr fein, wie de Gaulle mit den französischen Siedlern in Algerien umsprang. Sie erwischten mich, als wir ein Kino in die Luft sprengten (ich liebe Kinder, ich hatte keine Ahnung, daß da gerade eine Kindervorstellung lief), und sie verurteilten mich zum Tode und führten mich zum Erschießen. Dann, als ich mit verbundenen Augen an der Wand stand, kam so ein Drecksack und sagte, sie würden mich nicht erschießen, wenn ich von nun an für sie arbeitete. Ich bin kein Held, dazu bin ich nicht blöde genug. Also sagte ich ›einverstanden‹, und seither arbeite ich für sie. Diesmal in Wien.
Die Saubande, dachte Clairon bitter. Wann werde ich sie jemals los? Nie! Nun ist auch meine Frau gestorben. Wenn ich nicht Janine hätte … Der Gedanke an seine kleine Tochter richtete Clairon wieder auf. So schlecht ging es ihm eigentlich gar nicht. Das Kind, das Haus, ein gutes Einkommen. Sie hatten ihn pro forma als Leiter einer französischen Importfirma in Casablanca etabliert.
Seit Clairon auf dem Friedhof umherfuhr, waren ihm kaum zwei Dutzend Menschen und nur vier Autos begegnet. Gott sei Dank.
Unter der weißen Last aus dem Himmel waren schwere Äste, ja ganze Bäume gebrochen. In ungeheuren Mengen lagerte der Schnee auf Hecken, Büschen, Fliedersträuchern und dem Astwerk von Buchen, Ulmen, Trauerweiden, Platanen, Ahorn- und Kastanienbäumen, hohen Fichten und Zypressen, auf allen Gräbern, allen Grabsteinen, Schmiedeeisengittern und Miniaturkapellen. Büsten, allegorische Gestalten und Steinfiguren waren zu grotesken Gebilden geworden. Eine lebensgroße Trauernde aus Sandstein, die an einem Grabrand lehnte, sah aus wie im neunten Monat, ein lockiger Knabenkopf feixte besoffen. Der Schnee war der Herr des Friedhofs, und seine Höflinge waren die Krähen. Unzählig, zu Tausenden, hockten sie dicht nebeneinander in den Kronen der Bäume, groß, plump und scheußlich. Ihr heiseres lautes Geschrei erfüllte die Luft.
Ein Alptraum, ein Nachtmahr in Weiß, unheimlich und unwirklich, beklemmend und öde, ein schreckenerregendes Reich des Todes war der Wiener Zentralfriedhof an diesem 16. Januar. Entfernte Bäume, Wege oder Gräber sah Clairon plötzlich nicht mehr – feiner Eisnebel, der in der Luft hing, ließ sie verschwinden wie ein gespenstischer Zauberer. Dunkel und tief lagerte eine geschlossene, schneegeladene Wolkendecke über der trostlosen Erde. Das Licht war fahl. Clairon trat leicht auf das Gaspedal. Die Katholische Abteilung, die den meisten Raum einnimmt, wird links und rechts flankiert von der Neuen und der Alten Israelitischen Abteilung, deren Synagoge, im Krieg durch Bomben fast gänzlich zerstört, wiederaufgebaut worden war, wie er aus der Broschüre wußte. Östlich des katholischen Teils, zwischen ihn und den neuen israelitischen gebettet, erstreckt sich, vergleichsweise klein, die Evangelische Abteilung.
Die helfen mir nicht, dachte Clairon. Da sind überall hohe Mauern. Wenn es darauf ankommt, muß ich sehen, wie ich im katholischen Teil zu einem der Ausgänge gelange. Zu einem der kleinen Tore der Rückseite am besten. Was für ein Monstrum von einem Friedhof!
»Olymp ruft Nummer Eins … Olymp ruft Nummer Eins …« Clairon meldete sich.
»Es ist jetzt fünf vor zwei. Arandas Wagen haben sie aus der Garage gebracht. Er kommt eben aus dem Hotel.«
»Gut«, sagte Clairon.
Er fuhr durch den Friedhof, auf dem er sich nun gut auskannte, bis vor eine alte große Platane jenes Rondells, das inmitten der Gruppen 56, 57, 58, 59, 71 und 72 liegt. Kein Mensch war hier, weit draußen in der Nähe der Friedhofsrückseite, zu sehen. Clairon rief die Zentrale und teilte mit: »Ich bin jetzt da und gehe auf Posten.«
»Gut, Nummer Eins. Nummer Zwei folgt Aranda. Wenn er wider Erwarten doch nicht zum Friedhof fährt, ruft Nummer Zwei Nummer Zwölf, und Nummer Zwölf fährt dann die Allee herunter, damit Sie informiert sind. Aber Aranda kommt bestimmt.«
»Hoffentlich«, sagte Clairon. Er schaltete den Sender ab, ebenso den Motor. Dann stieg er aus. Achtundvierzig Jahre alt war Clairon, aber er wirkte älter. Er hatte eine römische Nase in dem mageren Gesicht und schmale Lippen. Er trug einen wasserdichten Mantel aus erbsenfarbenem Popeline, der mit dickem Lammfell gefüttert war, die neue schwarze Pelzmütze, ein Wollhalstuch, Skihosen und Pelzstiefel. Die 98 k hielt er unter dem Mantel versteckt, während er nun vorsichtig die freigeräumte Allee zur Gruppe 73 hinabging – ein langes Stück Weg auf spiegelndem Eis. Erst als er sich anschickte, in die verschneite Gruppe 73 einzudringen, holte er zwei Filzlappen aus den Manteltaschen und band sie um die Stiefelsohlen. Danach sprang er über einen Schneewall am Rand der Straße. Aufmerksam betrachtete er die Gruppe 74, die durch eine andere freigeräumte Allee von seinem Abschnitt getrennt lag. Er entdeckte sofort, was er suchte. Sie hatten ihm genügend Fotografien jenes Grabes gezeigt.
Jenes Grab im Abschnitt F 74 stets im Auge behaltend, wählte Clairon nun das geeignetste seiner Gruppe aus – eine leichte Arbeit. Nach einigem Herumwaten war die ideale Position gefunden: Das Grab lag in der Abteilung L 73 und gehörte einer Familie Reitzenstein. Vier Tote ruhten bereits hier unter einem grauen Marmorquader, der fast so hoch wie Clairon war, zwei Männer und zwei Frauen. Clairon las die in den Stein gemeißelten, schwer vergoldeten und teilweise von Schnee verwehten Namen.
Über dem mächtigen Quader lagerte, gleichfalls aus grauem Marmor, ein etwa dreißig Zentimeter hoher Sockel, und auf diesem kniete, mit breit ausladenden Flügeln, ein grauer Marmorengel, welcher weinte. Dieser Engel war so groß wie ein normaler Erwachsener und trug ein wallendes Gewand und langes Haar, das ihm über den Rücken fiel. Die Hände hielt er vor das Gesicht geschlagen. Der Griff einer gesenkten Marmorfackel war an seiner rechten Hüfte befestigt, ihre Krone auf dem Sockel. Eine große Steinflamme loderte aus ihr empor. Die Fackelkrone befand sich an einem Ende des schweren Aufsatzes, der linke Fuß des Engels am andern. Auf der Vorderseite des Sockels waren in Großbuchstaben, gleichfalls schwer vergoldet, diese Worte zu lesen:
EST QUAEDAM FLERE VOLUPTAS
Clairon, vor dem monströsen Grab stehend, übersetzte die Inschrift gewohnheitsmäßig sogleich im richtigen Rhythmus: Irgendwie tut es wohl, sattsam sich auszuweinen.
Kurze Ergriffenheit erfaßte ihn, während er den Text für sich wiederholte und dabei die Drähte an die Lederhandschuhe anschloß. Es waren Spezialhandschuhe, die sich beheizen ließen. Die Drähte liefen unter Clairons Jackenärmeln bis zu zwei Batterien in den inneren Brusttaschen. Seine Finger mußten warm bleiben.
Der Engel trug eine Schneehaube von mindestens vierzig Zentimetern. Ebenso heftig verschneit waren seine Flügel, der Sockel, der Quader, das Grab. Clairon machte es sich hinter ihm bequem. Es war wirklich ein großartiger Platz. Von den Alleen her konnte niemand ihn sehen.